Einzelstimmen I |
Johann Arndt Weil es der Liebe Natur und Wesen ist, dass sie sich selbst mittelt, austeilt und schenkt, darum lässt sich die rechte Liebe nicht halten: Sie gibt sich selbst und teilt sich selbst mit. Und weil die Liebe nicht kann gezwungen werden – denn es kann niemand einen zwingen zu lieben –, deshalb ist sie eine freiwillige Gabe, die sich selbst von ihr selbst gibt und mittelt. Was nun einem anderen gegeben ist, das ist in seiner Gewalt. So ist denn nun die Liebe dessen, dem sie gegeben wird, und wird dessen, den man liebt. Weil nun der Mensch nichts mehr Eigenes hat als seine Liebe, darum gibt er, wem er seine Liebe gibt, sich selbst, und auf diese Weise wird der Liebende mit dem Geliebten vereinigt und wird ein Ding mit ihm, und aus zweien wird eins und eines ins andere verwandelt. Diese Verwandlung ist nicht genötigt noch erzwungen, sie hat nicht Pein oder Furcht, sondernd ist freiwillig, lieblich und süß und verwandelt den Liebenden in das Geliebte, sodass die Liebe ihren Namen von dem Geliebten bekommt. Alphonse Gratry Alle Geschöpfe reden zu uns; sie reden zu uns von Wahrheit, vorzüglich aber von Seligkeit. Im Grunde sind sie nur eine an unsere Intelligenz und unseren Willen gerichtete Sprache Gottes. Aber was bieten sie uns alle, wenn sie von Seligkeit reden? Offenbar eine vorübergehende, unvollkommene und begrenzte Seligkeit. Und gleichwohl ist es die wahre Seligkeit, die ewige, unendliche, höchste Seligkeit, die sie uns zu lehren haben. Nur zu diesem Zwecke gibt ihnen Gott ihre Reize und Anziehungskraft. Ihre Schönheit, ihre Anmut, ihre Verführungen sind ein Köder, um uns zur Liebe anzulocken; ihre Mängel, ihre Schranken, ihre Dornen, ihre Lügen und Treulosigkeiten sind Kräfte umgekehrten Sinnes, aber in der nämlichen Absicht bereitet, um uns durch den Schmerz, durch Betrübnis und Tränen zur höchsten Liebe zurückzubringen. Lew Nikolajewitsch Tolstoi Welch ein unglückliches, elendes Geschöpf ist doch der Mensch, der mit seinem Bedürfnis nach positiven Lösungen in diesen ewig wogenden, uferlosen Ozean von Gut und Böse, von Tatsachen, Erwägungen und Widersprüchen hineingeworfen ist! Die Menschen mühen sich seit Jahrhunderten ab, um Gut und Böse voneinander zu scheiden. Die Jahrhunderte kommen und gehen, und was auch ein vorurteilsloser Geist auf die Waage von Gut und Böse werfen mag, die Waagschalen schwanken nie, und auf jeder Seite bleibt ebenso viel Gutes wie Böses. Wenn der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und entscheidend zu urteilen und zu denken und nicht immer Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben sind, damit sie ewig Fragen bleiben! Wollte er doch begreifen, dass jeder Gedanke zugleich falsch und richtig ist! Er ist falsch, weil der Mensch einseitig ist und unmöglich die ganze Wahrheit in ihrer Gesamtheit erfassen kann; er ist richtig, weil durch ihn immer eine Seite des menschlichen Strebens ausgedrückt wird. Die Menschen haben sich in diesem ewig wogenden, uferlosen, unendlich durcheinander gemischten Chaos von Gut und Böse Fächer geschaffen, haben in diesem Meer imaginäre Grenzlinien gezogen, und sie erwarten, dass das Meer sich nach diesen Linien teile. Als ob es nicht Millionen anderer Einteilungen von ganz andern Gesichtspunkten aus und in andern Ebenen gäbe! Allerdings werden solche neuen Einteilungen im Laufe von Jahrhunderten ausgearbeitet; es sind aber schon Millionen von Jahrhunderten vergangen, und Millionen werden noch vergehen. Die Zivilisation ist das Gute, die Barbarei das Böse; die Freiheit ist das Gute, die Unfreiheit das Böse. Dieses imaginäre Wissen vernichtet in der menschlichen Natur das instinktive, selige, ursprüngliche Streben nach dem Guten. Wer kann definieren, was Freiheit, was Despotismus, was Zivilisation und was Barbarei ist? Wo sind die Grenzen zwischen diesen Begriffen? Wer hat in seiner Seele einen so unfehlbaren Maßstab für Gut und Böse, dass er mit ihm alle die flüchtigen und verworrenen Tatsachen zu messen vermöchte? Wessen Verstand ist so groß, dass er auch nur die Tatsachen der starren Vergangenheit umfassen und wägen könnte? Und wer hat schon je einen Zustand gesehen, wo Gut und Böse nicht miteinander vermengt wären? Und wenn ich mehr von dem einen als von dem andern sehe, woher weiß ich denn, dass ich die Dinge vom richtigen Gesichtspunkte aus betrachte? Wer ist imstande, sich im Geiste, wenn auch nur für einen ganz kurzen Augenblick, so vollkommen vom Leben loszulösen, dass er es ganz objektiv von oben herab betrachten könnte? Wir haben nur einen unfehlbaren Führer: den Weltgeist, der uns alle und jeden Einzelnen wie eine Einheit durchdringt, der einem jeden das Streben nach dem, was notwendig ist, eingegeben hat. Es ist der gleiche Geist, der dem Baume befiehlt, der Sonne entgegenzuwachsen, der der Blume befiehlt, im Herbste ihre Samen auszustreuen, und der uns befiehlt, uns unwillkürlich aneinanderzuschmiegen. Gerd-Lothar Reschke Liebe ist nichts anderes als die Abwesenheit des Ich. Ich hatte immer gedacht, Liebe könnte man nicht definieren, aber dies ist eine gute Definition, und sie passt, so einfach sie auch ist. Wo das Ich ist, da kann keine Liebe sein. Das bedeutet selbstverständlich auch, dass nirgendwo Liebe sein kann, wo Absichtlichkeit und Wille eines Ich ist. Nichts willentlich Gemachtes kann Liebe sein, auch – oder: erst recht – nicht der Versuch, zu lieben. Kein Ich kann lieben. Wo ein Ich ist, da ist Liebe ausgetilgt und ausgeschlossen – beide nebeneinander können nicht existieren. Ein Ich mag zwar etwas tun oder versuchen, was es für Liebe hält, aber das ist immer nur ein verlogener Ersatz, eine Übertünchung von etwas Echtem durch etwas Unechtes. Dahinter gekommen bin ich durch Überlegungen über andere und deren Verhalten. Ich hatte blindlings unterstellt, dort gäbe es Ichs. Ich hatte Ichs von anderen als Demonstrationsobjekte hernehmen wollen, als Lehrbeispiele für falsches Verhalten, für Irrtümer und Illusionen. Der Punkt ist bloß: Es gibt nur ein Ich, und das ist mein eigenes – imaginäres, künstlich imaginiertes – Ich. Die Ichs der anderen brauche ich nicht zu untersuchen, denn es gibt sie gar nicht. Wenn es etwas Irrtümliches zu untersuchen gäbe, dann bei meinem Ich. Die Freiheit, ungebunden zu sein, ist bereits da. Wer sich nicht binden will, ist ungebunden – weil Ungebundenheit die Realität ist. Jede Sekunde ist eine Sekunde der bereits vorhandenen Ungebundenheit. Und deshalb ist Liebe da und immer da. Solange diese Ich-Dramen nicht erzeugt werden, die alles verdunkeln, ist sie immer präsent. Und es kann gar nicht anders sein. Das Beste ist, man fühlt sich so richtig schlecht, so richtig elend mit den eigenen Ich–Dramen. Das ist die beste Chance, davon loszukommen. Der Ekel muss groß genug sein. Man muss bis in alle Körperzellen hinein spüren, was man da anrichtet und wie grauenvoll das ist.
Johann Arndt, Sechs Bücher vom
wahren Christentum, Das vierte Buch, Das 28. Kapitel, Johann Andreäa
Endterische Buchhandlung, Nürnberg 1806 |