Johannes von Sterngassen |
1 Begehre ich die Dinge, so sind sie begehrenswert. An sich selber sind sie nicht begehrenswert. Nichts kann mich sättigen, was mich nicht füllen kann. Wäre ich Gottes voll, nichts wäre mir die ganze Welt. 2 Seneca der Meister spricht: Wer Gott fürchtet, den fürchten alle Dinge. Wer Gott nicht fürchtet, der fürchtet alle Dinge. 3 Seneca spricht: „Glaube mir, es kann niemand selig und reich sein.“ Der Reiche dieser Welt ist nicht selig, er diente denn dem Guten. Diene ich dem Reichtum, habe ich Kümmernisse. Habe ich Kümmernisse, so habe ich die Freiheit verloren, und so bin ich nicht selig. Wer jedoch um Gott sich kümmert, der kann alle Dinge in Gott gebrauchen. Habe ich mich nicht selber in der Gewalt, so bin ich nicht selig. Der hat sich selber in der Gewalt, den kein Geschöpf festhalten kann, sodass es ihn neigte zu Lust oder Leid. 4 Es ist nicht genug, dass man die Kreaturen abscheide von der äußeren Habe, man muss sie vielmehr hinaussetzen als die Bilder, die in die Seele einfallen und sie beschweren. 5 Es ruhen die natürlichen Dinge, wenn sie an ihre Stätte kommen. Es ruhen die wilden Tiere, wenn ihre Bedürfnisse befriedigt sind. Jegliche Kreatur ruht an ihrer Stätte. Nimm den Stein, wirf ihn in die Luft – er ruht nicht eher, als bis er wieder zur Erde fällt. Woher kommt das? Das kommt daher, dass die Erde seine Heimat ist und Luft ihm Fremde. Ein jegliches Ding ruht an der Stätte, da es geboren ist. Die Stätte, da ich geboren bin, das ist die Gottheit. Die Gottheit ist mein Vaterland. Hab ich einen Vater in der Gottheit? Ich habe nicht allein einen Vater da, mehr, ich hab mich da selber. Ehe ich an mir selber wurde, da war ich in der Gottheit geboren. Wäre einzig Gottes Wort in mir gesprochen, alle Welt hielte mich nicht, ich stiege bis zur Gottheit empor. Wenn irgendein Ding lang von seiner Stätte fort ist, verdirbt es. Wirf den Vogel ins Wasser – er ertrinkt. Wirf den Fisch in die Luft – er verendet. Der Fisch ist im Wasser geboren, Wasser ist sein Element. Bist du aus Gott geboren, willst du auch aus Gott leben, wahrlich, sonst stirbst du. 6 Hab ich mich selber überwunden, so habe ich alle Dinge überwunden. 7 Die ewige Freiheit schauen ist nichts anderes als von sich selber befreit werden. 8 Weil ich mir selber unwert bin, sind mir kleine Dinge wert. Wär ich mir selber groß, nichts sonst wäre mir groß. 9 Alles, was Gott wirken kann, das kann meine Seele erleiden. 10 Die Seele, die Gott erleidet und schaut, der sind alle Dinge zu eng und zu klein. 11 Es ist unmöglich, dass Gott sich jemals der Seele vereinige, solange sie von den Bewegungen der Zeit und den Bildern der Kreaturen nicht ganz und gar frei geworden ist. 12 Soll ich das ewige Wort hören, so müssen alle Dinge in mir schweigen. Soll Gott in mir sprechen, müssen alle Kreaturen in mir schweigen. Hast du etwas, das in dir spricht, da schweigt Gott: Alle Dinge müssen ausgesprochen sein. Wo Gott ist, da sind alle Dinge ausgesprochen. Wer Gottes voll ist, in dem findet nichts Raum. 13 Wenn es an die bloße Gottheit geht, so muss ich schweigen. Bin ich nach Gott gebildet, so ist sein Bild in mir. Das Wort, in dem ich nach Gott selber gebildet bin, spreche nicht ich: Gott spricht es in mir. 14
Was in Gott ein Wirken ist, das soll in mir ein
Leiden sein. 15 Die Lauterkeit des Herzens ist edler als Erkenntnis oder Liebe. Liebende Menschen sind viele gefallen, erkennende Menschen sind viele gefallen – ein lauteres Herz fiel nie. Darüber spricht ein Heiliger: Wenn ich mich in Liebe übe, so finde ich, dass mir Gott unbegreiflich ist; wenn ich mich in Erkenntnis übe, so finde ich, dass er mir unergründlich ist: Kehre ich mich aber in die Freiheit der Lauterkeit meiner Abgeschiedenheit, so finde ich, dass mir Gott in der Abgeschiedenheit gleich ist. Man liest von einem weisen Mann, der zu einem Gottliebenden ging und ihn fragte, wie es um ihn stünde. Da sprach er: „Ich bin in großer Mühsal; ich bin in steter Sorge und fürchte allezeit, zu verlieren was ich liebe. Und je mehr ich liebe, umso weniger traue ich meiner Liebe.“ Da ging er fürbass und fand einen Gottschauenden und fragte auch den, wie es ihm ginge. Da sprach der, er sei in steter Mühsal: „Je mehr ich erkenne, umso mehr finde ich, was mir noch unbekannt ist; je tiefer ich eindringe, umso weniger verstehe ich.“ Da ging er abermals fürbass und fand einen Geläuterten. Da fragte er auch den, wie es ihm ginge. Da sprach der: „Ich weiß nichts zu sagen, als dass ich an Gott alles habe, was ich will.“ Da sprach der Weise: „Ich will ruhen und Gott in mir wirken lassen, und ich will schweigen und hören, was Gott in mir spreche, und ich will mich hinkehren in das Vermögen meiner Abgeschiedenheit: Da finde ich, dass Gott sich mir verinnigt.“ Man fragt mich, was ich meine, dass ich Lauterkeit über Erkenntnis, Liebe und Gnade hinaus rühme. Das sage ich euch: Alles, was diese drei Dinge Gutes an sich haben, das finde ich auf einmal miteinander in den lauteren Herzen und viel edler, als wenn ihrer jedes das Seine in sich umfangen hätte:
Liebe lässt mir Gott lieb sein – Lauterkeit lässt mich Gott lieb sein. 16
Du sollst sprechen – ich soll hören. 17
Ich ging in mich selbst
und ich war aus dem Fluss der Zeit genommen,
Und mein Verstand war von Bildern frei,
Da kam in mich ein Mich-in-Dir-Vergessen,
Da kam in mich ein Über-Schauen und ein Über-Begehren und ein Über-Verstehen.
Da kam in mich ein Schauen Deiner Ewigkeit
Da kam ich los von mir
Ich fand mich mit Dir durchformt,
Ich fand mich mit Dir das Wesen wesend
und der Vater war in meiner Seele allmächtig 18 Ist ein Geschöpf deine Ruhe, so ist es dein Gott.
1, 2, 4–11, 14, 18 Wilhelm Wackernagel, Altdeutsche
Predigten und Gebete aus Handschriften, Schweighauserische
Verlagsbuchhandlung, Basel 1876, Seite 163–168 |