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Jiddu Krishnamurti

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Die Wahrheit oder Gott ist vollkommen unbekannt. Sie mögen darüber nachdenken, mögen darüber spekulieren, aber die Wahrheit bleibt noch immer unbekannt. Das Bewusstsein muss erst die Vergangenheit abstreifen, muss frei werden von allen Dingen, die es gewusst hat, und das Gewusste besteht aus den akkumulierten Erinnerungen und Problemen der täglichen Existenz. Wenn also eine radikale Veränderung, eine fundamentale Transformation entstehen soll, muss das Bewusstsein das Gewusste hinter sich lassen. Denn Liebe ist nichts, das man gestern erfahren hat und morgen wieder aus der Erinnerung holt; die Liebe ist etwas völlig Neues, Unbekanntes.

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Wenn Sie keine Liebe haben, können Sie machen, was Sie wollen: hinter allen Göttern dieser Welt her her sein, sich in alle sozialen Aktivitäten stürzen, versuchen die Armut zu beseitigen, in die Politik gehen, Bücher und Gedichte schreiben – Sie sind trotzdem ein toter Mann. Ohne Liebe werden Ihre Probleme sich nur noch vergrößern und sich endlos vermehren.

Doch mit Liebe können Sie machen, was Sie wollen, da gibt es keine Gefahr, da gibt es keinen Konflikt. Dann ist Liebe das Wesen der Tugend. Ein Geist, der nicht im Zustand der Liebe lebt, ist überhaupt kein frommer Geist, und es ist nur der fromme Geist, der von Problemen befreit ist und die Schönheit von Liebe und Wahrheit kennt.

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Sie haben Angst davor, alle Dinge loszulassen. Sie haben Angst davor, das ganz und in der Tiefe, aus der Tiefe Ihres Seins, loszulassen und mit dem Unbekannten zu verbleiben, das der Tod ist. Können Sie, der Sie das Ergebnis des Bekannten sind, in das Unbekannte eintreten, das der Tod ist? Wenn Sie das wollen, muss es geschehen, während Sie leben, gewiss nicht im letzten Augenblick. Während des Lebens das Haus des Todes zu betreten ist nicht bloß eine morbide Idee, es ist die einzige Lösung. Können wir das, was nicht messbar ist, das, was der Erfahrende nur in seltenen Augenblicken erhaschen kann, können wir das kennen, während wir ein reiches, erfülltes Leben leben – was immer das bedeutet – oder während wir ein elendes, verarmtes Leben leben? Kann der Geist von Augenblick zu Augenblick jeder seiner Erfahrungen gegenüber sterben und niemals ansammeln?

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Wenn man Liebe, Wahrheit oder Gott erkennen will, darf man keine Glaubenssätze, keine Meinungen oder Theorien darüber haben. Sobald Sie eine Ansicht über irgendeine Tatsache haben, wird diese Ansicht für Sie wichtiger als die Tatsache selber. Wollen Sie wissen, ob eine Tatsache wahr oder falsch ist, dann dürfen Sie nicht im Wort oder Intellekt leben. Auch wenn Sie noch so viel über eine Tatsache wissen, kann doch die wirkliche Tatsache vollkommen anders sein.

Legen Sie alle Bücher beiseite, die Beschreibungen, Überlieferungen und Autoritäten, und begeben Sie sich auf die Reise der Selbstentdeckung. Lieben Sie; und verstricken Sie sich nicht in Meinungen und Ideen darüber, was Liebe ist oder sein sollte. Wenn Sie wirklich lieben, wird alles andere sich ergeben. Liebe zeitigt ihr eigenes Handeln. Lieben Sie, und ihr Segen wird Sie berühren. Keine Autorität weiß, was Liebe ist, und wer es weiß, kann es nicht beschreiben.

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Nun wollen wir überlegen, was Liebe ist. Ich weiß wirklich nicht, was sie ist. Man kann sie beschreiben, man kann sie in wunderbarer Poesie ausdrücken, indem man sehr schöne Worte verwendet, aber Worte sind keine Liebe. Gefühl ist nicht Liebe. Sie hat nichts mit Emotionen, mit Patriotismus oder mit Ideen zu tun. Das wissen Sie sehr gut, wenn Sie sich damit beschäftigt haben. Wir können also die Wortbeschreibungen ganz weglassen, die Bilder beiseite schieben, die wir um dieses Wort herum aufgebaut haben: Patriotismus, Gott, Arbeit für Ihr Land und die Queen – Sie kennen diesen ganzen Unsinn! Wir wissen auch, falls wir sehr genau beobachten, dass Vergnügen nicht gleich Liebe ist. Können Sie diese Pille schlucken? Für die meisten von uns ist Liebe sexuelles Vergnügen. Den meisten unter uns im Westen ist dieses Gefühl von sexuellem, körperlichem Vergnügen sehr wichtig. Und wenn es nicht erfüllt werden kann, gibt es Qual, Gewalt, Brutalität, riesige emotionale Szenen. Ist das alles Liebe?

Das Vergnügen des sexuellen Aktes und die Erinnerung daran – dieses Wiederkäuen und der Wunsch, es wieder zu bekommen, die Wiederholung, die Jagd nach dem Vergnügen, das nennt man Liebe. Wir haben dieses Wort so vulgär, so bedeutungslos gemacht. „Geht hin und tötet für die Liebe zu eurem Land!“ „Tretet irgendeiner Sekte bei, weil sie Gott lieben!“ Wir haben aus dem Wort etwas Schreckliches gemacht – eine hässliche, vulgäre, brutale Angelegenheit. Das Leben ist soviel größer, weiter, tiefer als bloßes Vergnügen, aber diese Zivilisation, diese Kultur hat aus dem Vergnügen die beherrschende, mächtigste Sache des Lebens gemacht. Was ist also Liebe?

Untersuchen wir das hier zusammen? Bitte, tun Sie es, es ist Ihr Leben. Verschwenden Sie Ihr Leben nicht. Sie haben ein paar Jahre, verschwenden Sie sie nicht. Sie sind dabei, sie zu verschwenden, und es ist traurig, das mit anzusehen.

Also welchen Platz nimmt die Liebe in der Beziehung ein? Was ist Beziehung, was heißt das, eine Beziehung zu haben? Es heißt, angemessen, vollständig aufeinander zu reagieren. Die Bedeutung dieses Wortes Beziehung ist: verbunden [verwandt] zu sein; verbunden bedeutet in direktem Kontakt mit einem anderen Menschen zu stehen, beides sowohl in psychologischen als auch in direktem körperlichen Kontakt. Sind wir überhaupt miteinander verbunden? Ich mag verheiratet sein, Kinder, Sex und alles Übrige haben, bin ich aber überhaupt verbunden? Und womit bin ich verbunden? Ich bin mit dem Bild verbunden, das ich mir von Ihnen oder ihr mache. Bitte geben Sie darauf Acht, geben Sie doch Acht! Und sie ist mit mir gemäß dem Bild verbunden, das sie von mir hat. Ja? Also stehen die beiden Bilder miteinander in Beziehung, und diese bildhafte, vorgestellte Beziehung nennt man Liebe! Sehen Sie doch, was für eine absurde Sache wir daraus gemacht haben. Das ist eine Tatsache. Das ist keine zynische Beschreibung. Dieses Bild habe ich mir von ihr in vielen Jahren oder zehn Tagen oder in einer Woche aufgebaut – oder ein Tag reicht aus. Und sie hat dasselbe gemacht. Verstehen Sie, wie grausam, wie hässlich, wie brutal, wie verrucht diese Bilder sind, die einer vom anderen hat? Man nennt den Kontakt dieser zwei Bilder eine Beziehung. Deshalb tobt ein ewiger Kampf zwischen dem Mann und der Frau, wo der eine versucht, den anderen zu beherrschen. Wenn einer die Herrschaft erreicht hat, wird eine Kultur um diese Herrschaft herum aufgebaut – das matriarchalische oder das patriarchalische System. Sie wissen, was im Gange ist. Ist das Liebe?

Wenn das Liebe ist, dann ist Liebe bloß ein Wort ohne Bedeutung. Denn Liebe ist nicht Vergnügen, nicht Eifersucht, nicht Neid, nicht die Trennung von Mann und Frau, wo einer den anderen beherrscht, einer den anderen antreibt, besitzt, dem anderen verhaftet ist. Das ist ganz gewiss keine Liebe – es ist bloß bequem und eine Sache der Ausbeutung. Doch das akzeptieren wir als Norm im Leben. Wenn Sie das betrachten, es wirklich ansehen, dessen ganz gewahr werden, dann werden Sie darauf achten, dass Sie niemals mehr ein Bild aufbauen – egal was sie macht oder was Sie machen – Sie machen sich kein Bild mehr. Vielleicht entsteht aus diesem eine ganz ungewöhnliche Blume, die Blüte dessen, was man Liebe nennt; und es geschieht wirklich. Diese Liebe hat nichts mit „meiner“ oder „deiner“ Liebe zu tun. Es ist Liebe. Und dann werden Sie eine ganz andere Art von Zivilisation hervorbringen, eine andere Kultur, andere Menschen, Männer und Frauen.

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Gott ist, wenn Sie nicht sind.

1  Evelyne Blau, Krishnamurti. 100 Jahre, Aquamarin Verlag, Grafing 1995
2  Jiddu Krishnamurti, Über die Liebe, Aquamarin Verlag Grafing
3  Mary Lutyens, Krishnamurti. Die Biographie, Aquamarin Verlag, Grafing 1991
4  D. Rajagopal (Hrsg.), Krishnamurti. Verstand und Liebe. Gedanken zum Leben III,
4  Humata Verlag Harold S. Blume, Bern
5  Jiddu Krishnamurti, Über die Liebe, Aquamarin Verlag, Grafing
6  Quelle nicht erinnerlich
Alle mit freundlicher Erlaubnis der Verlage