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Manikka-Vasagar

1

Ich sah ihn mit eigenen Augen,
ihn – hör! – der verborgen ist
in der lieblichen Harfe,
ihn – höre! – hab’ ich gesehen,
der alles sofort erkennt,
den Höchsten sah ich, o höre!,
den Erhabenen, den Alten,
ihn, den Brahma und Vishnu
nicht haben erreichen können,
den Wunderbaren sah ich,
den Vielgestaltigen, höre!,
den Alten – o höre! – ihn,
der jenseits steht aller Worte,
ihn, der – o höre! – wohnt
in einer Ferne, dahin
auch der Geist nicht dringen kann,
ihn, der – o höre! – im Netz
der Bhakti zu fangen ist,
ihn, den Einzigen – höre!,
von dem gesagt werden kann,
dass er der Einzige ist,
ihn, der – höre! – seiend
die ganze Welt durchdringt,
die ausgebreitete, weite,
der nicht mehr in Atome
aufgelöst kann werden,
ihn, den – höre! – an Größe
nichts übertreffen kann,
ihn, der an Wert übertrifft –
hör’! – alles, das wertvoll ist,

 

ihn, der mit allem verbunden,
der alles wachsen lässt,
ihn, der – höre! – zu fein ist,
als dass man ihn könnte erkennen
durch Bücherwissen und -weisheit!
Ihn, der – höre! – durchdringt
oben und unten alles!
Ihn, der – o höre! – steht
jenseits von Anfang und Ende!
Ihn, der – o höre! – bewirkt
Fesselung und Erlösung,
ihn, der das Unbewegliche
und das Bewegliche ist,
ihn, der – hör! – überschaut
Geburt und auch den Tod!
Den Herrn, zu dem – o höre!, –
alle gelangen können,
ihn hab’ ich geseh’n,
den die Götter nicht kennen,
ihn, der da ist – o höre! –
sowohl „er“ als „sie“ und auch „es“!
Erkannt hab ich, dass der Nektar,
der – hör! – so reichlich trieft
von liebreicher Gnade,
dass – höre! – der Allgnädige,
dass er, dessen Fuß – o höre! –
bis auf die Erde reicht,
dass er – o hör’! – er selber,
der herrlich Erhabene ist!

2

Ich kenne nicht die Fehler,
die ich begangen habe,
ich weiß nichts von einem Leben,
das den heiligen Fuß verehrt
und dadurch erlöst wird.
Und doch ist zur Erde gekommen er
und hat aus dem Köcher genommen
die scharfe, spitze Lanze
und sie auf mein Herz geschleudert.

3

Er hat mich – höre! – gnädig
in seinen Dienst genommen,
er, das Seligkeitsmeer,
nahm mich in seinen Dienst.
Auf dem schönen, dem hohen Berg
ist seine große Schönheit,
die herrliche, mir erschienen,
sodass wie durch einen Blitz
es hell ward rings umher,
sodass die große Schlange
der Begierden meiner Sinne
eiligst die Flucht ergriff,
sodass sich verflüchtigte
in ein Nichts die große Hitze!

4

Er sprach zu mir, rief mich zu sich,
er nahm mich in seinen Dienst,
während andere meinesgleichen
nach seinem Wesen noch forschen.
Als in der Gestalt eines Lehrers
er sich mir zeigte,
hatte er durch die Zweige
mit dem süßen, wilden Honig
ein Aussehen, dass ich erlitt
große Pein und laut weinte,
weil mein Gebein vor Liebe
wie Wachs im Feuer zerschmolz,
dass lauter ich schrie als die Wogen
des wild bewegten Meeres,

 

sodass ich hoch erhoben
und tief erniedrigt wurde,
dass hin und her ich mich wälzte,
dass ich schluchzte und wie ein Irrer
von Sinnen geriet und erregt ward,
als wenn ich ein Tollhäusler wär’,
infolge der großen Brunst,
an die selbst nicht heranreicht
die der brünstigen Elefanten,
sodass ich Wilder verlor
die Herrschaft über mich selbst.
Also, dass sich gefürchtet
die Leute und sich gewundert
alle, die davon hörten.

5

Mich geringes, hilfloses Tier,
das erfasst vom Wirbelwind
der Kaste, der Sippe und auch
des Geborenwerdenmüssens,
taumelnd hin und her,
mich hat er vom Leiden befreit,
hat mich in Dienst genommen,
hat den törichten Sinn beseitigt:
das Hinschauen auf andere Götter,
wie auch den Ich- und Meinstolz.
Ihn, den fehlerlosen Nektar,
hab ich geseh’n!

6

Er hat mich genommen
in seinen heiligen Dienst.
Er, der mir ein Heiltrank ist,
hat gnädig mich angeschaut,
die endlose Seligkeit
ist selbst zu mir gekommen,
hat mich zum Wahnsinn gebracht
und hat ein Ende bereitet
meinem Geborenwerden,
mein Herz in Verzückung versetzt,
die niemand beschreiben kann.

7

Zur Zeit, als ich noch nicht kannte
seine herrliche Gestalt,
ist er in mein Herz gedrungen,
hat Wohnung darin gemacht,
seinen Sinn auf mich gerichtet,
ist in meinen Leib gedrungen,
hat aus Gnaden mich genommen
in seinen heiligen Dienst.
Ihn, die beseligende,
die höchste Seligkeit,
hab ich Unwürdiger geseh’n!

8

O helles Licht, das aufgeht
in meinem dunklen Innern,
sodass vor Verlangen nach dir
wie Wachs ich vergehe und bettle,
o du, der wie eine Lotusblume
auf dem Kopf der Götter glänzt,
du bist der dichte Äther,
das Wasser, die Erde bist du,
das Feuer und der Wind,
und doch auch bist du
dies alles wieder nicht!
O du, der eine Gestalt hat,
die also verborgen ist,
heute bin ich froh, ich bin selig,
dass ich dein Antlitz geseh’n!

9

Ohne dass ich es wusste,
sann über dein Wesen ich nach,
der du wie eine Sonne
heute in mir aufgegangen
und, mich erleuchtend, hast
die Finsternis vertrieben.
Ohne dich ist nichts,
du bist das Eine,
das überall ist und das
auch im Atom gegenwärtig,
im Atom zerrieben wird!
Nichts bist du,
und doch gibt es nichts,
das ohne dich ist!
Wer könnte dich erkennen?

10

Es kann dich nicht erkennen
die Schar der Himmlischen,
an dich reicht nicht heran
der heiligen Schriften Ende!
Auch können dich nicht erkennen
der andern Welten Bewohner!
Mich aber hast du gemacht
so freundlich zu deinem Knecht!
Du machtest mein Fleisch erzittern,
mein Herz hast du erweicht,
hast mich dahin geführt,
dass ich dich genießen kann!
Den Weisheitstanz hast du
mich tanzen lassen!
Das alles tatest du,
dass ausgetilgt werde
alle Unwissenheit in mir,
die ja am Irdischen haftet!

11

Was du mir gegeben hast,
das bist du selber,
und was du empfangen hast,
das bin ich!
O Wohltäter, sage doch,
wer von uns beiden war klüger?
Unvergängliche Seligkeit
hab’ ich von dir empfangen.
Was aber empfingst du von mir?
Zu deinem Tempel
hast du mich Armen erhalten!
Meinen Leib hast du
zur Wohnung erkoren!
Und ich – ach! – hab’ nichts
dir zu schenken!

12

An deine Hände denkend,
die ewigen, lache ich, Herr!
Kenn’ ich Unwürdiger denn
vor dir keine Scham, Erhabener?
Ach, nicht lieb’ ich dich so,
dass mich dein hehrer Anblick
zu Boden werfen würde!
Ach, war ich es wert,
dass du mich zum Knecht gemacht?
Ach, solche Gedanken sind’s,
die mir die Seele bewegen!
Weh mir, was soll ich tun?
Wie soll ich tragen die Last?

13

Wie wenn du dich wolltest vereinen
mit mir, hast du mich
zum Knecht gemacht,
hast mit dem Blick mich gefesselt.
Als ich erkannte, dass nie
ich mich dir vereinen könnte,
da hast du geschaffen,
da hast du zur Wahrheit gemacht
das Band zwischen dir und mir.
Nichts wurde die Welt da für mich!

14

O König der Getreuen,
o du wahrhaftiges Licht,
das in mein Herz gekommen,
du hast es zum Schmelzen gebracht,
o Licht, du hast vertrieben
die Finsternis der Lüge,
sodass vor Liebe entbrennen,
bis in die tiefsten Tiefen
mein Leib und meine Seele!
O du ewiges, wogendes Meer,
o du klarer Nektarsee!
O einzigartiges Wissen,
das weiß, ob es auch steht jenseits
von Wort und Gedanken,
verleihe mir rechte Erkenntnis,
damit ich die preise!

15

Gepriesen seist du
der du derer dich annimmst,
die vor lauter Ehrfurcht
wie Wachs am Feuer zerfließen,
die da weinen, die da zittern
an ihrem ganzen Leib,
die da tanzen, schluchzen, singen;
und die sich tief verneigen,
die nicht wieder lassen los
das einmal von ihnen Ergriffene,
wie der Rachen des Tieres tut
und einer, der von Sinnen;
deren tiefe Ergriffenheit
durch die überquellende Liebe,
die nimmer aufhören kann,
noch mehr befestigt wurde,
so fest, als wie ein Nagel,
den man hat eingeschlagen
in einen frischen Baumstamm;

 

deren Herz in Wallung geriet
wie das tiefe, wogende Meer
und zerschmolz wie Wachs am Feuer;
deren Leib an allen Gliedern
aus Zuneigung erzittert;
die jedes Gefühl der Scham
verloren, sodass die Welt,
sich über sie lustig machte
wie über Sinnverwirrte;
die halten für einen Schmuck
die Schmähreden der Leute;
die ihre Beredsamkeit
verloren ohne Hintergedanken;
die halten die Verwirrung,
die durch Wissen veranlasst,
für die höchste Seligkeit,
die ein Mensch erlangen kann;
die weinen und schreien laut
wie eine Kuh nach dem Kalb.

16

Das höchste Gut sei gepriesen,
das die giftige Schlange
nach seinem Gefallen lässt tanzen!
Gepriesen sei der Große,
der mir die Sinne verwirrt hat!
Gepriesen sei er, der erscheint
im Schmuck der heiligen Asche!
Gepriesen sei er,
der das Gehende gehen,
der das Liegende liegen,
der das Stehende stehen macht!
Der Alte sei gepriesen,
der jenseits steht aller Worte,
der nicht erkannt kann werden
durch innere Erkenntnis
und auch nicht durch das Auge,
noch durch die andern Organe,
er, der den Äther und auch
die andern Elemente

 

ins Dasein gerufen hat,
das herrliche Wesen, das heute
freiwillig zu mir gekommen,
und das mir heute gezeigt hat
seine erhabene Herrlichkeit,
die alles unzertrennlich
erfüllt wie der Duft die Blume,
und das zum Stillstand gebracht hat
die Verknüpfung mit dem Leib,
dem vergänglichen Leichnam!
Gepriesen sei er, der gekommen
heute aus eigenem Antrieb
um meiner Seligkeit willen!
Gepriesen sei er, der mir
diesen Körper gegeben,
der für die Erleuchtung geeignet!
Gepriesen sei er, der erfreut,
indem er das Innere erfüllt!

17

Mein Leib bebt vor Verlangen
nach deinem schön duftenden Fuß,
anbetend heb’ ich die Hände,
und Tränen entströmen den Augen.
Es zerschmilzt mir das Herz
wie Wachs.
Ich lasse fahren die Lüge,
dir juble ich zu ohne Ermüden,
nie höre ich auf, dich zu preisen!
Blick’, Herr aller Dinge, auf mich!
O, mach mich zu deinem Knecht!

18

Versperre den Weg meinen Sinnen,
die da trügen, die mich hassen,
die mich in Verwirrung bringen!
O köstlicher Nektar, fließe!
O du vollkommenes Licht,
Licht meines Herzens, komm zu mir!
Komm, o erleuchte mich,
dass ich dich in Wahrheit erkenne,
der du süßer bist als Honig!
O du ewige Seligkeit,
jenseits stehst du
von den Stufenseligkeiten!
O du meine Liebe!

19

Wenn durch meine Sinne verführt
ich dich auch verlassen habe,
wo in Gnade und Großmut du
dich meiner angenommen,
wirst du mich doch nicht verlassen!
O du klares Nektarmeer!
O großes Meer! Ach, ich Armer!
Ich sehn’ mich, zu trinken aus dir!

20

Ach, ich Schlingpflanze gleich,
die keinen Baum gefunden,
den sie umschlingen kann,
so schwank’ ich hin und her!
Du jugendlich Schöner, du,
du wirst mich, der nach dir hungert,
du wirst mich doch nicht verlassen?
O du Himmlischer, du,
dem Himmlische nicht nahen,
dem sie nicht nahen können,
o du, der du König bist,
dem Ewigen, o Gebieter,
o Äther, du, o Erde!
O Feuer, Wind, o Wasser!

21

Wann wird kommen die Zeit,
wo ich stehe, ganz übermannt
von sehnsüchtig verlangender Liebe,
sodass mit den Tränen zugleich
die Eigenschaften der Seele
sachte zu Boden fließen?

22

Wann endlich wird kommen die Zeit,
wo, abgestorben der Welt,
mein Denken in liebender Sehnsucht
den Fuß des Erhabenen nur sucht?
Wann endlich wird kommen die Zeit,
wo mein zerstörter Sinn
mich treibt von Ort zu Ort,
der Welt ein töricht Verzückter?

23

Wann werde ich zu dir gelangen,
o, wann mag es sein?
Für mich, gibt’s – ach! –
keinen andern Weg,
um leben zu können, als dich!
So sieh, wie es wirr ist in mir!
Erbarm dich meiner, Erhabener!
Dies ist ja allein der Weg,
mit dir eins zu werden,
einen andern gibt es ja nicht!

 

Die Hymnen des Manikka-Vasaga [Tiruvasaga]
Aus dem Tamil übersetzt von H. W. Schomerus, Eugen Diederichs Verlag, Jena 1923

   1  Hymne 3,5 (S. 12)
   2  Hymne 47,3 (S. 185)
   3  Hymne 3,6 (S. 13)
   4  Hymne 3,11 (S. 15)
   5  Hymne 31,5 (S. 144)
   6  Hymne 47,6 (S. 186)
   7  Hymne 31,3 (S. 143)
   8  Hymne 22,6 (S. 117)
   9  Hymne 22,7 (S. 117)
10  Hymne 5,10,5 (S. 44)
11  Hymne 32,10 (S. 118)
12  Hymne 5,6,10 (S. 37)
13  Hymne 5,8,1 (S. 39)
14  Hymne 22,3 (S. 116)
15  Hymne 4,5 (S. 19)
16  Hymne 3,9 (S. 14)
17  Hymne 5,1,1 (S. 25)
18  Hymne 32,1 (S. 116)
19  Hymne 6,12 (S. 48)
20  Hymne 6,20 (S. 50)
21  Hymne 27,6 (S. 133)
22  Hymne 5,1,3 (S. 25)
23  Hymne 5,8,7 (S. 40)