José Ortega y Gasset |
1 Der Wunsch nach etwas ist letzten Endes ein Streben danach, es zu besitzen; wobei Besitz auf eine oder andere Weise bedeutet, dass der Gegenstand in unseren Lebenskreis eintreten und gleichsam einen Teil von uns bilden soll. Der Wunsch hat einen passiven Charakter. Ich bin das Gravitationszentrum und erwarte von den Dingen, dass sie mir zufallen. Umgekehrt ist in der Liebe alles Aktivität. Der Liebende geht aus sich heraus zu dem Objekt und ist in ihm. Die Liebe ist vielleicht der höchste Versuch, den die Natur unternimmt, um das Individuum aus sich heraus und zu dem anderen hinzuführen. Im Wunsch suche ich, den anderen zu mir zu ziehen, in der Liebe werde ich zu ihm hingezogen. 2 In der Art, wie sie anhebt, gleicht die Liebe sicher dem Wunsch, denn sie wird von ihrem Gegenstand – Sache oder Person – erregt. Die Seele fühlt sich beunruhigt und zart verwundet durch einen Stachel, der sich vom Objekt her auf sie richtet. Eine solche Anstachelung hat also eine zentripetale Richtung; sie kommt zu uns vom Objekt her. Aber der Liebesakt beginnt erst nach dieser Erregung, besser: Reizung. Aus der Wunde, welche der aufreizende Pfeil des Objekts geöffnet hat, quillt die Liebe und wendet sich aktiv dem Objekt zu; sie bewegt sich in umgekehrtem Sinn wie der Reiz und wie jeder Wunsch. Sie geht vom Liebenden zum Geliebten – von mir zum anderen – in zentrifugaler Richtung. Dieser Charakter, sich seelisch in Bewegung zu befinden, auf dem Weg zu einem Objekt, dies unaufhörliche Hinwandern vom eigenen Sein zu dem des anderen, ist der Liebe wesentlich. Doch handelt es sich nicht darum, dass wir uns physisch dem Geliebten entgegen bewegen, dass wir seine körperliche Nähe und Gemeinschaft suchen. Alle diese äußeren Akte entstehen ganz gewiss aus der Liebe als ihrer Ursache, aber zur Definition der Liebe sind sie belanglos. Alles, was ich sage, bezieht sich auf den Liebesakt als inneres Erlebnis, als Vorgang der Seele. Man kann zu Gott, den man liebt, nicht mit den Füßen des Leibes gehen. Und dennoch heißt ihn lieben: zu ihm hingehen. Wenn wir lieben, geben wir die Ruhe und Sesshaftigkeit in uns selbst auf und wandern virtuell in den Gegenstand aus. Und dieses unaufhörliche Hinüberwandern heißt Liebe. José Ortega y Gasset, Über die Liebe, DVA, München 2002, mit freundlicher Erlaubnis des Verlags |