Plotin |
1 Das Eine strebt nicht nach uns, so dass es um uns wäre, aber wir streben nach ihm; und doch richten wir nicht immer unseren Blick auf das Eine: Wir gleichen einem Chor von Sängern, die sich zwar immer um den Chorführer scharen, aber doch ab und zu nach außen blicken und falsch singen. Wenden wir uns aber zu dem Chorführer hin, so singen wir schön und sind in Wahrheit mit ihm verbunden: So befinden wir uns auch immer um das Eine herum, selbst wenn wir uns von ihm entfernen und es nicht mehr kennen. Wir haben aber nicht immer unsere Blicke darauf gerichtet. Wenn wir es aber anschauen, dann winkt uns das Ziel und die Ruhe, wir befinden uns nicht mehr in Uneinigkeit mit ihm und bilden in Wahrheit einen gottbegeisterten Reigen um es. 2 In diesem Reigen schaut die Seele die Quelle des Lebens, die Quelle des Geistes, das Prinzip des Seienden, die Ursachen des Guten, die Wurzel der Seele. All das wird nicht aus dem Ersten gegossen, um es dadurch zu verringern; es ist keine körperliche Masse, sonst wären ja seine Erzeugnisse vergänglich; nun aber sind sie ewig, weil ihr Prinzip bleibt, wie es ist, weil es sich nicht in dieselben verteilt, sondern ganz bleibt. Daher bleiben auch jene Erzeugnisse, wie das Licht, solange die Sonne bleibt. Wir aber sind nicht abgeschnitten oder abgetrennt von dem Einen, wir sind nicht außer ihm, wenn auch die körperliche Natur, sich uns nähernd, uns zu sich hingezogen hat, sondern in ihm atmen und bestehen wir, denn das Eine gibt nicht und entfernt sich dann wieder, sondern es hebt und trägt uns immer, solange es ist, was es ist. Wir jedoch besitzen das Sein in höherem Maße, wenn wir uns zu jenem neigen, und unser Glück liegt in ihm, während das Fernsein von ihm ein Schlechterwerden bedeutet. 3 In ihm ruht unsere Seele aus, dort erkennt sie in Wahrheit und ist keiner Leidenschaft unterworfen, dort ist auch ihr wahres Leben. Denn unser jetziges Leben ohne Gott ist nur eine Spur jenes Lebens, aber das Leben dort ist Tätigkeit des Geistes, und durch Tätigkeit erzeugt es die Schönheit, die Gerechtigkeit, die Tugend; denn von ihnen geht die gotterfüllte Seele schwanger und Gott ist für sie Anfang und Ende; Anfang, weil sie von dort herstammt, Ende, weil das Gute dort ist, und sie, dort angelangt, selbst auch wieder wird, was sie war. 4 Auch die der Seele eingeborene Liebessehnsucht beweist, dass das Gute dort ist. Denn da die Seele verschieden ist von Gott, aber von ihm herstammt, so sehnt sie sich notwendigerweise nach ihm, und dort weilend besitzt sie die himmlische Liebe. In ihrem natürlichen Zustand sehnt sich also die Seele nach Gott, um liebend mit ihm eins zu werden. 5 Wer diese Verhältnisse nicht kennt, möge es aus den Äußerungen der irdischen Liebe entnehmen, was es heißt, den besonders geliebten Gegenstand zu erlangen. Er möge bedenken, dass das, was hier von uns geliebt wird, sterblich ist, dass unsere Liebe sich nur auf Scheinbilder richtet und dass sie oft in ihr Gegenteil verwandelt wird, weil das, was wir liebten, nicht wahrhaft liebenswert war, noch das Gute, das wir suchten. Dort aber ist das wahrhaft Liebenswerte, mit dem der, der es ergriffen hat und wirklich besitzt, vereint bleiben kann, weil es nicht von uns getrennt ist durch eine Hülle von Fleisch und Blut. 6 Wer es geschaut hat, weiß, was ich sage, er weiß, dass die Seele dann ein anderes Leben empfängt; dass sie sich Gott nähert, ihn erreicht, ihn besitzt und in diesem Zustand inne wird, dass der Chorführer des wahrhaftigen Lebens da ist und es keinen anderen geben kann. Im Gegenteil, man muss alles andere ablegen, um sich auf Gott allein zu richten und sich mit ihm zu vereinigen. Wir müssen darum Trauer empfinden über unsere Fesseln und müssen mit unserem ganzen Wesen Gott umfassen, damit wir keinen Teil mehr in uns haben, mit dem wir nicht an Gott hangen. 7 Da dürfen wir denn ihn und uns selbst schauen, wie es zu schauen frommt, uns selbst im strahlenden Glanz, erfüllt von geistigem Licht, oder vielmehr als reines Licht selbst, ohne Schwere, leicht, Gott geworden oder vielmehr Gott seiend. Unseres Lebens Flamme ist dann entzündet. 8 Wer sich nun selbst geschaut hat, wird sich dann, wenn er schaut, als einen solchen schauen, der einfach geworden ist, oder vielmehr, er wird mit sich selbst als einem solchen verbunden sein und sich als einen solchen fühlen. Vielleicht darf man hierbei nicht einmal von Schauen reden. 9 Was aber das Geschaute anbetrifft, wenn man hier überhaupt das Schauende und das Geschaute voneinander unterscheiden kann und nicht vielmehr beides als eines bezeichnen muss, was freilich eine kühne Behauptung ist, so schaut eigentlich der Schauende nicht in diesem Zustand, noch unterscheidet er, noch hat er die Vorstellung von zwei Dingen: Er wird gleichsam ein anderer, er hört auf, er selbst zu sein, er gehört sich nicht mehr selbst an; dort angekommen ist er aufgegangen in Gott und ist eins mit ihm geworden, wie ein Mittelpunkt, der mit einem anderen Mittelpunkt zusammenfällt; sind doch auch hier zusammentreffende Dinge eins und nur dann zwei, wenn sie getrennt sind. In diesem Sinne reden wir davon, dass die Seele eine andere ist als Gott. Darum lässt sich aber auch mit Worten ein solches Schauen schwer beschreiben. Wie sollte man auch etwas als ein Verschiedenes beschreiben, wenn man es beim Schauen nicht als ein Verschiedenes erblickte, sondern als eins mit uns selbst? 10 Da also bei diesem Schauen nicht zwei waren, sondern der Schauende selbst und das Geschaute zusammenfielen, gleich als wäre es kein Geschautes, sondern Geeintes, so wird, wer durch Vereinigung mit ihm eins geworden ist, wenn er sich erinnert, in sich ein treues Abbild von jenem bewahren. 11 Er war aber auch bei jenem Schauen an sich eins, ohne irgendeinen Unterschied mit sich oder mit andern in sich zu umfassen. Jede Bewegung, jeder Zorn, jede Begierde nach etwas anderem war nach seinem Aufsteigen zum Göttlichen in ihm ausgeschlossen, ja selbst über allen Begriff und alles Denken war er hinaus, er war es überhaupt selbst nicht mehr, wenn man so sagen darf, sondern wie entzückt und gottbegeistert, steht er gelassen in einsamer Ruhe und ohne Wandel da, nirgends von seinem eigenen Wesen abweichend, bezog er sich nicht einmal auf sich selbst, überall feststehend, ist er gleichsam die Ruhe selbst geworden; in diesem Zustand bekümmert er sich selbst um das Schöne nicht mehr, sondern sogar über das Schöne ist er erhaben, erhaben aber auch über den Reigen der Tugenden, einem Mann vergleichbar, der in das Allerheiligste eines Tempels tritt und die Götterbilder im Tempel hinter sich gelassen hat, die ihm wieder zuerst begegnen, sobald er aus dem Allerheiligsten zurückkehrt, wenn er da drinnen das geschaut und mit dem sich vereinigt hat, was nicht Gestalt noch Bild, sondern das göttliche Wesen selbst ist. 12 Doch ist der Ausdruck Schauen vielleicht nicht richtig gewählt, es handelt sich hier vielmehr um eine andere Art zu sehen, eine Ekstase, ein Einfachwerden, ein Hingeben seiner selbst, ein Verlangen nach Berührung, eine Ruhe und ein Sinnen mit ihm eins zu werden, was man im Allerheiligsten Schauen nennt. Die Seele befindet sich dann nicht in einem andern, sondern in sich selbst. Sie hört alsdann auf, eine Wesenheit zu sein, sie überragt die Wesenheit insoweit, als sie mit Gott in Gemeinschaft steht. 13 Wer sieht, dass er also Gott geworden ist, trägt in sich selbst ein Bild Gottes, und wenn er von sich selbst aus hinübergeht, wie das Bild zum Urbild, so hat er das Ziel seiner Wanderung erreicht. Auch dann selbst, wenn er aus dem Schauen heruntergefallen ist, kann er in sich die Tugend erwecken, die Vollendung seiner Seele wahrnehmen und so sich wieder aufschwingen durch die Tugend zum Geist, durch die Weisheit zu Gott. So ist das Leben der Götter, so auch das der göttlichen und glückseligen Menschen, eine Befreiung von allen Erdenfesseln, ein Leben ohne Erdenlust, eine Flucht des einzig Einen zum einzig Einen. 14 Wer es geschaut hat, weiß es, was ich sage: Die Seele findet in ein anderes Leben, wenn sie den Einen schaut und weiß: Nichts anderes ist zu wissen nötig. Nein, alles andere lege ich ab. In ihm, dem Einen, soll ich stehen. Der Eine soll ich werden, alles andere lassen. Mit meinem ganzen Wesen ihn umfassen. Nichts soll mehr an mir sein, mit dem ich ihn nicht berührte. Ich lasse mich, ich will nur noch berühren. Ich will mich nur vereinen mit dem Einen. Nur ihn, den Einen, will ich schauen im inneren Heiligtum der Seele. Plotin, Enneaden, in Auswahl übersetzt und eingeleitet von Otto Kiefer, Band 1, Eugen Diederichs Verlag, Jena 1905; 6. Enneade, Buch 9: Über das Gute und das Eine, S. 128–133 |