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Rainer Maria Rilke

An Annette de Vries-Hummes

München, am 25. August 1915

… Selbst wenn vorderhand das Schlimmste nötig würde, Ihre Rückkehr an die Bureaustelle, so müssten Sie den Mut aufbringen, die Stärke Ihrer Innenexistenz dadurch zu erweisen, dass Sie ernst und streng an sich arbeiten. Köln ist ein Ort, wo man gute Bücher borgen kann, vielleicht gibt Ihnen Carolinens Gestalt Beziehung zu anderen Schriften der Romantik; es sei Goethe da, Sie gründlich zu beschäftigen; wagen Sie das, was Darstellungsdrang in Ihnen ist, an die Lesung Shakespeares! Denn die „Ideale“ vertreten heißt schließlich nur, sich in der inneren, innen gemeinten Welt nicht beirren zu lassen, wenn auch noch so fremde, ja feindselige Verwirklichungen wider einen stehen und recht haben gegen einen. Wenn Ihr Brief, trotz der Offenheit seiner Aussprache, so wenig fähig ist, ein eigentliches Bild zu geben, so liegt das einesteils an Ihrer großen Jugend, anderenteils daran, dass Sie, wie alle jungen Menschen, wo Sie von sich selbst zu reden meinen, doch mehr von den Widerständen handeln, die Ihnen entgegenstehen. Es scheint mir eine besonders glückliche Fügung für Sie, dass Sie in Ihrem Mann einen so weitfühlenden Freund haben; einen nahen Menschen zu haben, in dem entgegengesetzte Ansichten mit einer tiefen überzeugten Freundschaft zusammengehen, kann von wunderbar entwickelndem Einfluss sein; denn solange man [wie meistens den Eltern und sonst älteren Leuten gegenüber] gezwungen ist, das Andere auch jedes Mal für das Falsche, Arge, Feindliche zu halten, statt eben schlechthin für – das Andere, solange bekommt man keine gelassene und gerechte Beziehung zur Welt, in der jedes Raum haben soll, Teil und Gegenteil, ich und der von mir Allerverschiedenste. Und nur unter Voraussetzung und Zugebung einer solchen, vollzähligen Welt wird man auch das eigene Innere, mit seinen internen Kontrasten und Widersprüchen, weit und geräumig und luftig einrichten.

Die Frage, die Ihr Mann durch Sie an mich richtet, ist allgemein nicht zu beantworten; denn in der Art ihrer jedesmaligen persönlichsten Lösung wird sich herausstellen, ob der Einzelne mit seiner opfernden Einstellung sich selbst Schaden tut oder nicht. Selbst ein scheinbarer Verzicht auf eigene Ideale, um der Sorgfalt zu einem Andern willen, muss nicht endgültiger Verzicht sein, sondern kann wiederum Bereicherung werden; denn wer für einen Anderen in großer Unterwerfung sich bemüht, der kann ja auch wieder in dem Anderen das großziehen, was er in sich selber vernachlässigt; und manch einem mag es schöner scheinen und lohnender, in einem geliebten Geschöpf oder einem groß begriffenen Gemeinwesen zur Blüte kommen, als im eigenen Dasein. Man kann sich die Weiten und Möglichkeiten des Lebens gar nicht unerschöpflich genug denken. Kein Schicksal, keine Absage, keine Not ist einfach aussichtslos; irgendwo kann das härteste Gestrüpp es zu Blättern bringen, zu einer Blüte, zu einer Frucht. Und irgendwo in Gottes äußerster Vorsehung wird auch schon ein Insekt sein, das aus dieser Blüte Reichtum trägt, oder ein Hunger, dem diese Frucht willkommen ist. Und sollte sie bitter sein, so wird sie doch mindestens einem Auge erstaunlich gewesen sein und wird ihm Lust gemacht haben und Neugier nach Formen und Farben und Hervorbringungen des Dickichts; und sollte sie abfallen, so fällt sie in die Fülle des Künftigen und trägt noch in ihrem letzten Zerfall dazu bei, es reicher, bunter, drängender und wachsender zu machen.

Ich glaube, gnädige Frau, ich habe alles geschrieben, was zu sagen in meiner Macht steht; dass praktisch wenig Greifbares sich dabei ergibt, müssen Sie mit Nachricht hinnehmen; nach dieser Seite ist meine Macht gleich Null. Es sollte mich freuen, wenn aus der Beschäftigung mit Carolinens Aufzeichnungen einige Wendung für Ihr künftiges Leben hervorgehen sollte, die weiter und weiter führt. Ich möchte Sie sogar bitten, dieses Buch zu behalten, als eine Art Nachschlagebuch den Zufällen und Erschwerungen gegenüber, die ja auch im Leben jener unbeirrten und großmütigen Frau so vielfältig und oft fast unübersteiglich waren …

Briefe