Rainer Maria Rilke |
An Ilse Blumenthal-Weiß Château de Muzot sur Sierre, am 28. Dezember 1921 Auf Weihnachten zu, so hatte ich mir vorgenommen, sollte sicher ein kleines Zeichen meines Gedenkens bei Ihnen sein; denn noch immer lag Ihr Brief von jenem November-Sonntag unbestätigt da! Aber ich hatte so ungeheure Briefrückstände abzuleisten, dass die Feder den Weg zu Ihnen nicht mehr rechtzeitig unternehmen konnte. Und eben, da ich sie ansetzen will, Ihnen wenigstens ein „gutes Jahr“ zuzueignen, – siehe: da überrascht, da erfreut mich Ihre Sendung. Sie hatten sie dem 4. zugedacht, den ich nebenbei in keiner Weise begehe, sie hat weit mehr Zeit gebraucht, aber nun kommt sie [mit mehr Recht, als der Geburtstag beanspruchen dürfte] in das nie ganz überwindliche Weihnachtliche hinein, das einen doch [mag man ihm auch keine Feier zugestehen] mit einer gewissen traditionellen Erwartung erfüllt. – Haben Sie herzlichen Dank dafür und für den begleitenden schönen Brief. Sie überschätzen gewiss durchaus, was den Einfluss meiner Bücher angeht, seine Kraft und Leistung in Ihnen; kein Buch, so wenig wie ein Zuspruch, vermag etwas Entscheidendes, wenn der, den es trifft, nicht durch ganz Unabsehliches vorbereitet ist für eine tiefere Aufnahme und Empfängnis: wenn nicht seine Stunde der Einkehr ohnehin gekommen ist. Die in die Mitte des Bewusstseins zurücken, genügt dann das oder dies: manchmal ein Buch oder Kunstding, manchmal der Aufblick eines Kindes, die Stimme eines Menschen oder eines Vogels, ja, unter Umständen ein Geräusch des Windes, ein Krachen im Fußboden – oder, da man noch am Kaminfeuer saß [was ich ab und zu tat im Leben], ein Hineinschauen in die Verwandlungen der Flamme. Alles dies und noch viel Geringeres, scheinbar Zufälliges, kann ein Sich-Finden oder Sich-wieder-Finden [wie Sie es nun feiern!] veranlassen und bestärken –, die Dichter, ja, ab und zu mögen eben auch sie unter diesen guten Anlässen sein … Nicht aus Bescheidenheit, keineswegs, aber weil mir seine unbeschreiblich eindringliche Kunst durch die Jahrzehnte so bedeutend geblieben ist und mich so oft zu Zusammenfassungen im eigenen Innern angeleitet hat, – möchte ich meinen, dass Jacobsen viel, viel mehr Verdienst hat an Ihren schönen, freudigen Erfahrungen und Fortschritten. Geben Sie ihm die Ehre; und Ihrem lieben Kinde … und, wenn Sie durchaus wollen, mir, aber wie einem Namenlosen unter hundert unbenennbaren Kräften. Glauben! – Es gibt keinen, hätte ich fast gesagt. Es gibt nur – die Liebe. Die Forcierung des Herzens, das und jenes für wahr zu halten, die man gewöhnlich Glauben nennt, hat keinen Sinn. Erst muss man Gott irgendwo finden, ihn erfahren, als so unendlich, so überaus, so ungeheuer vorhanden –, dann sei’s Furcht, sei’s Staunen, sei’s Atemlosigkeit, sei’s am Ende – Liebe, was man dann zu ihm fasst, darauf kommt es kaum noch an, – aber der Glaube, dieser Zwang zu Gott, hat keinen Platz, wo einer mit der Entdeckung Gottes begonnen hat, in der es dann kein Aufhören mehr gibt, mag man an welcher Stelle immer begonnen haben. – Und Sie, als Jüdin, mit so viel unmittelbarster Gotterfahrung, mit so altem Gottesschrecken im Blut, sollten sich um ein „Glauben“ gar nicht kümmern müssen. Sondern einfach fühlen, in Ihrer Gegenwart die Seine: Und wo Er, Jehova, gefürchtet werden wollte – da wars ja nur, weil es in vielen Fällen kein anderes Mittel gab zu gegenseitiger Nähe von Mensch und Gott als eben die Furcht. Und Furcht vor Gott ist ja nur, sozusagen, die Schale eines Zustandes, dessen Inneres nicht nach Furcht schmeckt, sondern bis zur unsäglichsten Namenlosigkeit und Süßigkeit reifen kann für den, der darinnen sich verliert. – Sie haben, vergessen Sie das nicht, einen der größten Götter des Weltalls in Ihrer Herkunft, einen, zu dem man sich nicht wie zu jenem Christengott irgendwann bekehren kann – Einen, dem man gehört, von Volkes wegen, weil er einen von jeher in den Vätern gemacht und gestaltet hat, so dass jeder Jude in Ihm [und in dem, den keiner darf zu nennen wagen] eingesetzt ist, unausreißbar eingepflanzt in Ihm, mit der Wurzel seiner Zunge! Ich habe ein unbeschreibliches Vertrauen zu jenen Völkern, die nicht durch Glauben an Gott geraten sind, sondern die mittels ihres eigensten Volkstums Gott erfuhren, in ihrem eigenen Stamme. Wie die Juden, die Araber, in einem gewissen Grade die orthodoxen Russen – und dann, in anderer Weise, – die Völker des Ostens und des alten Mexikos. Ihnen ist Gott Herkunft und darum auch Zukunft. Den anderen ist er ein abgeleitetes, etwas, wovon sie fort und wozu sie hinstreben als eigentlich Fremde oder Fremdgewordene, – und so brauchen sie immer wieder den Mittler, den Anknüpfer, den, der ihr Blut, das Idiom ihres Blutes, übersetzt in die Sprache der Gottheit. Die Leistung dieser Völker ist dann freilich der „Glaube“, sie müssen sich überwinden und erziehen, für wahr zu halten, was den Gottursprünglichen ein Wahres ist, und darum entgleiten ihre Religionen so leicht ins Moralische, – während ein ursprünglich erfahrener Gott Gut und Böse nicht sondert und unterscheidet im Hinblick auf die Menschen, sondern für sich selbst, leidenschaftlich besorgt um ihr Nah-an-ihm-Sein, um ihr Zu-ihm-Halten und -Gehören und sonst um nichts! Religion ist etwas unendlich Einfaches, Einfältiges. Es ist keine Kenntnis, kein Inhalt des Gefühls [denn alle Inhalte sind ja von vornherein zugegeben, wo ein Mensch sich mit dem Leben auseinandersetzt], es ist keine Pflicht und kein Verzicht, es ist keine Einschränkung: Sondern in der vollkommenen Weite des Weltalls ist es: eine Richtung des Herzens. Wie ein Mensch gehen und irren mag nach rechts und nach links, und sich stoßen und stürzen und aufstehen, und hier Unrecht tun und dort Unrecht leiden, und hier misshandelt sein und dort drüben selber misswollen und misshandeln und missverstehen: Alles dieses geht in die großen Religionen über und erhält und bereichert in ihnen den Gott, der ihre Mitte ist. Und der Mensch, der auch noch an der letzten Peripherie solchen Kreisringes lebt, gehört zu dieser mächtigen Mitte, und hätte er nur einmal, vielleicht sterbend, sein Antlitz ihr zugewendet. Dass der Araber zu gewissen Stunden sich gegen Osten kehrt und sich niederwirft, das ist Religion. Es ist kaum: „Glauben“. Es hat kein Gegenteil. Es ist ein natürliches Bewegtwerden innerhalb eines Daseins, durch das dreimal täglich der Wind Gottes streicht, indem wir mindestens dies: biegsam sind. Ich denke, Sie müssen es empfinden und erfühlen, wie ich’s meine, – und so möge das in die stille und offene Verfassung, die Sie Ihre Genesung nennen, irgendwie eingehen und darin weiter wirken zu Ihrer Sicherheit und Freude! Ihr Rainer Maria Rilke Wann schreiben Sie mir wieder? |