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Rainer Maria Rilke

An Rudolf Bodländer

Château de Muzot sur Sierre, am 13. März 1922

Lieber,

da ist zunächst zu sagen, dass ich an dem Spätsein dieser Antwort nicht schuldig bin. Ich bekam Ihren Brief gestern, Sonntag, am 12. März, genau einen Monat, nachdem er geschrieben war. Der Insel-Verlag schickt mir nämlich an seine Adresse für mich eintreffende Post nur in gelegentlichen Schüben nach und durfte sich dieses Mal umso eher Zeit lassen, als man mich in Arbeit und also aller Korrespondenz im Ganzen abgeneigt wusste. Wenn ich ihm demnach keinen Vorwurf machen darf, so entstünde mir der fühlbarste wider mich selbst, wollte ich nun irgendwelche Abhaltung vor die Beantwortung stellen, die Sie seit Wochen erwarten –, und die aufzuschieben mir auch schon deshalb unnatürlich wäre, weil mich, was Sie mir schreiben, sehr von Herzen beschäftigt.

Ein anderes ist es nun freilich, ob ich fähig sein möchte, in doch immerhin kurzem Brief eine Antwort zu finden, die Ihre Erwartung nicht leer lässt. Ob auch solche wenigen [und zu einem Teile ratenden] Worte Sie, lieber Freund und Bruder, wirklich erreichen können, liegt vor allem an der Gangbarkeit und Sicherheit der Brücke, die zwischen uns geschlagen ist. Was diese nun angeht, so meine ich wirklich, mich auf ihre volle Tragfähigkeit verlassen zu dürfen, denn die ergreifenden Worte des Bezugs, die Sie mir geschrieben haben, sind so voller Beweis und Zeugnis, Ihr Umgang mit meinen Arbeiten wird so rein offenbar in ihnen, dass ich meine, auch das Rasche und Fragmentarische einer Briefseite könne nicht anders als mit einer gewissen Genauigkeit in die von Ihnen erfahrenen und vorbereiteten Zusammenhänge aufgenommen sein. So will ich denn in aufmerksamster Auffassung versuchen, Ihnen, Lieber, zu dem Konflikt zu reden, den Sie mir mehr andeuten als eigentlich vorstellen. Aber ich erfasse ihn, glaub ich, in seiner Mitte. Sie nennen es den Zwiespalt zwischen der „geistigen und weltlichen Pflicht“.

Wenn ich nun an mich selber denke in meiner Jugend, so war es für mich durchaus so, dass ich fort musste, auf die Gefahr hin zu kränken und wehzutun. Ich kann Ihnen nicht unsere damaligen österreichischen Verhältnisse schildern, die [rechnet man die verhängnisvolle Falschheit und Beirrtheit der achtziger Jahre hinzu] so in sich aufgegebene und abgestorbene gewesen sein müssen, dass mein Instinkt mir sagte, es sei, von ihnen aus, ein Hinein- und Hinüberwachsen in das, was das Leben scheinbar mit mir meinte, ein auch noch für die ringendste Kraft ganz und gar Unmögliches. Nehmen Sie dazu, dass ich inmitten dieser Unmöglichkeiten [wo fast alles rein Erfahrbare durch Vorwand und Vorurteil verstellt schien] seit meinem zehnten Jahr in eine entschiedene Laufbahn [die des österreichischen Offiziers] eingelassen war; – so klein, wie ich war, auf ein glattes Lebensgeleis gestellt, auf dem mich jede Bewegung immer weiter und beschleunigter von dem fortgleiten ließ, was meiner unaussprechlichen Anlage und ihren dunklen Absichten entsprach –, so werden Sie verstehen, dass ich nur durch die widerstrebendeste aufbegehrendste Entgleisung mein Gemüt und Blut in Besitz zu nehmen vermochte.

Was ich künstlerisch schreibe, wird wohl bis zuletzt irgendwo die Spuren des Widerspruchs aufweisen, mittels dessen ich mich angetreten habe, – und doch, wenn Sie mich fragen, so möchte ich nicht, dass es dies sei, was vor allem von diesen Arbeiten ausginge. Nicht die Aufforderung zu irgendeiner Auflehnung und Befreiung, nicht das Ausspringen aus dem sie Umgebenden und ihnen Anfordernden, möchten – so wünschte ich – junge Menschen aus diesen Schriften schließen; vielmehr, dass sie in einer neuen Verträglichkeit das Gegebene, Zugemutete, unter Umständen Notwendige hinnähmen, vor ihm nicht nach auswärts, sondern ins Tiefere auswichen, dem Druck der Verhältnisse nicht so sehr widerstrebten, als vielmehr ihn ausnutzten, um durch ihn in eine dichtere, tiefere, eigentümlichere Schicht der eigenen Natur eingesetzt zu werden.

Wenn ich heute so spreche und also vielmehr ein Hinnehmen, Sich-Vertragen und Aushalten befürworte [das ich selber nicht geleistet habe] – so ist dies [hier prüfe ich mich streng] nicht eine Nachgiebigkeit des älteren Mannes, – sondern die Zeiten sind in der Tat andere geworden; zwischen jenem schwersten Jahrzehnt meiner Kindheit und der heutigen [selbst schlimmsten] Einstellung ist ein mit Zeitmaßen überhaupt kaum abschätzbarer Unterschied; mag auch jetzt noch zwischen Vater und Sohn der Abgrund täglich neu aufgerissen sein, gewisse Verständnisse sind über ihn hinüber möglich, ja so geläufig geworden, dass man sie gar nicht mehr zählt. Und dieses vor allem: Der junge Mensch selbst ist weit entfernt, in jenem Sinne, in dem unsereiner es in allen entscheidenden Nöten war, allein und verlassen zu bleiben: Das bloße Gleichaltrigsein hat eine besondere Bedeutung und Zuverlässigkeit angenommen [seit dem Jahr 1913 halt ich das Buch eines Frühverstorbenen in Ehren, – Henry Franck, La Danse devant l'Arche – in dem diese Erfahrung zuerst in den eindringlichsten Rhythmen gefeiert erschien], – und ich meine mich nicht zu täuschen, dass ich, wäre ich jetzt jung, in den reichsten Anschlüssen emporlebte, mitgerissen von solchen meines Alters, ihre meisten Begeisterungen teilend und ihren Bedrängnissen, vom eigenen Gemüt her, einvertraut.

Jenes „Schwernehmen“ des Lebens, von dem meine Bücher erfüllt sind, ist ja keine Schwermütigkeit, Lieber [und dieses „furchtbar“ und jenes „tröstlich“, zu dem Sie sich, mir so ergreifend, bekannt haben, wird in diesen Büchern immer näher zusammenrücken, bis es schließlich Eines sein wird in ihnen, ihr einziger wesentlicher Inhalt] – jenes Schwernehmen will ja nichts sein, nicht wahr?, als ein Nehmen nach dem wahren Gewicht, also ein Wahrnehmen; ein Versuch, die Dinge mit dem Karat des Herzens zu wägen, statt mit Verdacht, Glück oder Zufall. Keine Absage, nicht wahr?!, keine Absage; oh, im Gegenteil, wie viel unendliche Zustimmung und immer noch Zustimmung zum Da-Sein!

Aber nun bleibe noch eines zu bedenken und zu sagen. Sie lassen mich nicht erkennen, was man Ihnen nach vollzogenem Abitur vom Hause aus zumuten will, welchen Beruf, welche Beschäftigung; die, wie Sie sagen „einzige Arbeit“, das Ringen in der Richtung zu Gott, muss nicht notwendig leiden oder eingehen über einer scheinbar anderen oberflächlichen Anwendung der Kräfte. Vergessen Sie nicht, dass, um Beispiel in den Zeiten, da das Handwerk noch lebenswarm war, fast alle seine Rhythmen und Wiederholungen Gott in jenen einfältigen Herzen zu steigern vermochte; ja, dort erweist sich vielleicht am gründlichsten die einzige unvergleichliche Vergünstigung des Menschen, wo es ihm gelingt, in ein Unscheinbares, Geringes die heimliche Großheit seiner Beziehungen einzuführen. Es hat das Gedräng der Verwirrungen, die uns die Übersichtlichkeit und Ordnung des Heutigen erschweren, gefährlich vermehrt, dass die Rufe der Kunst so oft als Ruhe zur Kunst sind verstanden worden. So haben die Erscheinungen künstlerischer Betätigung – Gedichte, Bilder, Skulpturen und die schwebenden Gestaltungen der Musik –, statt ins Leben hineinzuwirken, immer mehr junge, künftige Menschen aus ihm herausgerufen. Dieses Missverständnis entzieht dem Leben viele ihm zugehörige Elemente, und der Bereich der Kunst, in dem doch nur einige Große am Ende berechtigt bleiben, überfüllt sich mit Verführten und Flüchtlingen. Nichts meint das Gedicht weniger, als in dem Lesenden den möglichen Dichter aufzuregen …, und das vollendete Bild sagt doch eher: Siehe, du musst nicht malen; ich bin schon da!

Also, darüber müssten wir, zum Schluss, genau verständigt sein, Freund und Bruder: Dass die Kunst nicht zuletzt wieder Künstler zu stiften vorhat. Sie meint keinen zu sich hinüberzurufen, ja, es ist immer meine Vermutung, dass es ihr auf eine Wirkung überhaupt nicht ankäme. Indem aber ihre Gestaltungen, aus unerschöpflichem Ursprung ununterdrückbar hervorgegangen, seltsam still und übertrefflich unter den Dingen dastehen, könnte es geschehen, dass sie jeder menschlichen Betätigung unwillkürlich irgendwie vorbildhaft werden durch ihre angeborene Uneigennützigkeit, Freiheit und Intensität.

Grüße Ihnen, Rudolf, Bodländer, und den lieben, Ihnen Gleichgesinnten!

Rainer Maria Rilke

Briefe