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Rainer Maria Rilke

An Rudolf Bodländer

Château de Muzot sur Sierre, am 23. März 1922

Wie gerne, junger Freund, würde ich auch Ihre neuen Blättchen gut beantworten –, aber hier haben Worte es schwer. Im Ganzen, mein ich zu erkennen, sind Sie richtig eingestellt, indem Sie jenen Kampf als einen intim Ihrigen auffassen und durchmachen wollen, bemüht zu erfahren, welche physischen und seelischen Bedingungen den Konflikt erneuen und in welchem ihrer Durchschnittspunkte er aufträte. Dieses ist sicher die verantwortlichste Einstellung, nur müssen Sie ihr alle Nebenbetonung eines vorwurfsvollen und belasteten Bemühens durchaus abnehmen. Lieber, dieses ist wichtig: Kämpfen sie arglos. Niemand wird heutzutage in unseren Ländern damit „fertig“ [wie der Ausdruck lautet] – jedem wird das seltsame Drängen Anlass zu irgendeiner Konfliktgruppe, – am wenigsten „überwunden“ hat der überlegene Bürger, der so viele zweideutige Auswege zugibt, gegen die eine solche tiefe und stille Ratlosigkeit sich als unendlich unschuldig erweisen müsste. – Überhaupt sind wir da ganz – vergessen Sie das nicht – auf dem Gebiete der Unschuld. – Das Entsetzliche ist, dass wir keine Religion besitzen, in der diese Erfahrungen, so wörtlich und handgreiflich wie sie sind [denn: zugleich so unsäglich und so unantastbar], in die Gott gehoben werden dürfen, in den Schutz einer phallischen Gottheit, die vielleicht die Erste sein wird müssen, mit der wieder eine Götterschar bei den Menschen einbricht nach so langer Abwesenheit. Was soll uns denn beistehen, wenn die religiösen Hilfen versagen – indem sie diese Erlebnisse vertuschen, statt sie zu verklären, und sie uns entziehen möchten, statt sie herrlicher, als wir sie zu ahnen wagten, in uns einzusetzen. Hier sind wir de unbeschreiblich Verlassenen und Verratenen: daher unser Verhängnis. Indem die Religionen, an den Oberflächen verlöschend und immer mehr erloschene Oberfläche ansetzend, zu Moralitäten abstarben, versetzten sie sie auch diese Erscheinung, die innerste ihres und unseres Daseins, auf den kalt gewordenen Boden des Moralischen und damit, notwendig, ins Periphere. Nach und nach wird man einsehen, dass hier, nicht im Sozialen oder Ökonomischen, unser zeitgenössisches großes Verhängnis sei –, in dieser Verdrängung des Liebesakts ins Peripherische. Des klarschauenden Einzelnen Kraft verbraucht sich nun daran, ihn wieder mindestens in die eigene Mitte zu rücken [wenn er schon nicht in der allgemeinen Weltmitte steht, was das sofortige Durchblutet- und Durchströmtsein der Welt mit Göttern zur Folge hätte], – der Blindlebige freut sich, im Gegenteil, irgendwie an dem Peripherisch-Zugänglichen des „Genusses“ und rächt sich [gegen seinen Willen klarsichtig] für sein dort doch Wertlossein, indem er diesen Genuss zugleich sucht und schmäht. – Absage im Oberflächlichen ist kein Fortschritt, und es hat keinen Sinn, den „Willen“ [der ja überdies eine zu junge und neue Kraft ist, gemessen an dem uralten Rechthaben des Triebs] dafür anzustrengen. Liebes-Absage und Liebes-Erfüllung, beide sind nur dort wunderbar und ohne Gleichen, wo das ganze Liebeserlebnis mit allen seinen voneinander kaum unterscheidbaren Entzückungen [die untereinander so alternieren, dass Seelisches und Leibliches gerade dort nicht mehr sich trennen lässt] eine zentrale Lage einnehmen darf: Dort wird ja dann auch [in der Hingerissenheit einiger Liebender oder Heiliger aller Zeiten und aller Religionen] Absage und Ausfüllung identisch. Wo das Unendliche ganz eintritt [sei es als Minus oder Plus], fällt das Vorzeichen weg, das, ach, so menschliche, als der vollendete Weg, der nun gegangen ist, – und was bleibt, ist das Angekommensein, das Sein! – Dies, Lieber, ist ungefähr, was sich von unserem größesten innigsten Geheimnis, wenn man gefragt wird, [vorläufig] bekennen lässt. – Ich meine, es muss, wenn Sie's genau lesen, Ihren ganzen Streit auf eine neue unverheerte Ebene verschieben. [Und wenn Sie einmal jemanden lieben, so lesen Sie diesen Brief mit ihm, wenn Sie ihn dann nicht schon so gut wissen, dass Sie seinen Inhalt aus sich heraus neu erfinden können!)

Wenn Sie so von der Mitte und vom Streben um das „Sein“ [das heißt um die Erfahrung der möglichst vollzähligen inneren Intensität] ausgehen, so wird auch Ihre Einstellung zu etwa aufspringendem dichterischem Antrieb sich klären. Es muss da durchaus nicht alles unterdrückt werden; was vor Ihrem, nach und nach sich stärkenden Gewissen sein Recht aufweise, gestaltet zu sein, dem geben Sie ruhig seine verlangte Form. Mag auf diese Weise nun das Blatt eines Tagebuches sich füllen oder ein Brief entstehen [absendbar oder nicht, gleichviel] – oder gar ein Gebild, das in dem Bereich des Künstlerischen seine unwillkürliche Heimat hat. Ob eines dorthin gehöre, erweist sich nicht aus dem Wunsch oder Drang, es öffentlich oder beifällig zu machen [auch hier treibt der Ungeist des Peripherischen sein beirrendes Spiel –]; sondern, dass ein Ding zur Kunst wird, liegt an seinem höheren, die Dinge des Gebrauchs oder die Ausdrücke des Umgangs kraft seiner Natur übertreffenden Schwingungsgrad, als dessen sekundäre Folge erst die Absicht auftritt, einer solchen, das Vergängliche und – banal gesprochen – Private übersteigenden Gestaltung eine Situation zu schaffen, in der sie bleibender und gewissermaßen weltischer dauere und überlebe. Von „Wirkung“ ist da nirgends die Rede, nicht einmal von dem eigentlichen Hinaustreten, das nur ein akzidentelles ist, für eine von selbst in größere Verhältnisse hineingeborene Erscheinung. – Was Sie etwa, bei solchem Eingestelltsein, in welchem Beruf immer, neben ihm oder trotz seiner, hervorbringen, wird immer zu Recht aufgeschrieben sein, und, ob es nun jemand zunächst erfährt und kennt oder nicht –, jedes so entstandene Wort wird Ihnen helfen und, darüber hinaus, eines Tages sagen, wohin es gehört.

Und noch dies, falls Kunst in Ihnen sich vorbereiten sollte, unter dem doppelten Boden, den Ihr Beruf einziehen und befestigen wird in Ihrem Dasein – denken sie daran, dass der sublimste, der „dichteste“ Dichter unserer Zeit, Stéphane Mallarmé, sein bürgerliches Leben als englischer Sprachlehrer zubringen konnte …

Und damit: Wünsche, Lieber, zu Zuversicht und Freude.

RMR

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