Rainer Maria Rilke |
An Emanuel von Bodman Westerwede bei Bremen, am 17. August 1901 Mein lieber Bodman, ich danke Ihnen für Ihren Brief und die Verse, diese Zeichen lieben und aufrichtigen Vertrauens. Ich weiß es wohl zu schätzen, dass Sie mir aus so ernsten Tagen schreiben konnten, und Sie werden es nicht aufdringlich empfinden, wenn ich daraus das Rechte ableite, Ihnen etwas von meiner Meinung über derartige Kämpfe zu vermitteln. In einem solchen Fall heißt es [nach meiner persönlichen Meinung], sich auf sich selbst zurückziehen und weder zu dem einen noch zu dem anderen Wesen hinzustreben, das Leiden, welches beide verursachen, nicht auf die Ursache des Leidens [die so weit außerhalb liegt] beziehen, sondern für sich selbst fruchtbar machen. Wenn Sie die Vorgänge Ihres Gefühls in die Einsamkeit übertragen und Ihr schwankendes und zitterndes Empfinden nicht in die gefährliche Nähe von Magnetkräften bringen, so wird es mit der ihm eigenen Beweglichkeit von selbst diejenige Lage einnehmen, welche ihm die natürliche und notwendige ist. – Es tut in jedem Falle gut, sich sehr oft zu erinnern, dass es über allem Seienden Gesetze gibt, die niemals zu wirken versäumen, die vielmehr herbeistürzen, um an jedem Stein und an jeder Feder, die wir fallen lassen, sich zu bewähren und zu versuchen. Alles Irren besteht also nur im Nichterkennen der Gesetzmäßigkeit, unter welcher wir im gegebenen Fall stehen, und alle Lösung beginnt mit unserer Aufmerksamkeit und Sammlung, die uns leise in die Kette der Ereignisse einreiht und unserm Willen seine wiegenden Gleichgewichte wiedergibt. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die „Ehe“ als solche nicht so viel Betonung verdient, als ihr durch die konventionelle Entwicklung ihres Wesens zugewachsen ist. Es fällt niemandem ein, von einem Einzelnen zu verlangen, dass er „glücklich“ sei, – heiratet aber einer, so ist man sehr erstaunt, wenn er es nicht ist! [Und dabei ist es wirklich gar nicht wichtig, glücklich zu sein, weder als Einzelner noch Verheirateter.] Die Ehe ist in manchen Punkten eine Vereinfachung der Lebensumstände, und der Zusammenschluss summiert natürlich die Kräfte und Willen zweier junger Menschen, so dass sie geeint weiter in die Zukunft zu reichen scheinen als vorher. – Allein, das sind Sensationen, von denen sich nicht leben lässt. Vor allem ist die Ehe eine neue Aufgabe und ein neuer Ernst, – eine neue Anforderung und Frage an die Kraft und Güte eines jeden Beteiligten und eine neue große Gefahr für beide. Es handelt sich in der Ehe für mein Gefühl nicht darum, durch Niederreißung und Umstürzung aller Grenzen eine rasche Gemeinsamkeit zu schaffen, vielmehr ist die gute Ehe die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat. Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welche einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt. Aber, das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen! Deshalb muss also auch dieses als Maßstab gelten bei Verwerfung oder Wahl: Ob man an der Einsamkeit eines Menschen Wache halten mag, und ob man geneigt ist, diesen selben Menschen an die Tore der eigenen Tiefe zu stellen, von der er nur erfährt durch das, was, festlich gekleidet, heraustritt aus dem großen Dunkel. So ist meine Meinung und mein Gesetz. Und, wenn es möglich ist, lassen Sie bald wieder Mutiges und Gutes von sich hören Ihren getreuen Rainer Maria Rilke |