Rainer Maria Rilke |
An E. M. Château de Muzot sur Sierre, am 22. September 1922 Allein schon, mein Guter und Werter, der Anblick Ihrer Schrift, ehe ich sie noch gelesen hatte, ließ mich fürchten, dass irgendein Schweres über Sie verfüge –, und nun ist's das Schwerste, das aus dem Herrlichsten kam: Kann so Schweres aus so rein Seligem kommen? Da Sie doch selbst jetzt noch wissen, wie dieses eben noch Selige Sie gelöst, befreit und beflügelt hat. Bis wann? Und warum nicht mehr? – Es gibt zwei Lesarten Ihres Briefes: Gestern war meine Vermutung die, dass Sie [vielleicht gegenseitig] einander der stärksten Strahlung des großen Gefühls zu lange ausgesetzt gehalten haben, so lang, bis der gleiche Strahl, der eben noch Wachstum und Fülle hervorrief, zuviel war und zu zerstören begann: Wofür Sie sich nun unwillkürlich rächen mussten. Heute versteh ich's anders: Als ob Sie, dieser Erfahrung nach, in der Sie noch stehen und ringen, sich für einen Menschen halten müssten, der als Liebender [sowie die Werbung vorüber ist] infolge innerer Verhängnisse sich verurteilt scheint, Mittel und Werkzeuge des Hasses anzuwenden, ebenso unwillkürlich, als Behelfe eines tieferen, rätselhafteren Genusses … Diese Entdeckung könnte Ihnen freilich unendlich schmerzhaft und verwirrend sein, – aber entsetzen müsste sie Sie nicht: Es hieße nur den Kampf aufnehmen mit Ungelöstheiten und Irrtümern Ihrer innersten Natur, – und wer weiß, wie sehr Sie gerade für ihn ausgerüstet wären durch jene Wandlungen und Errungenschaften, die Ihnen die Neigung und Hingabe jenes Menschen in gewissen Zeiten Ihrer Beziehung erschloss und ermöglichte. Wenn Sie nun vor sich selber erschrecken, indem Sie gewahr werden, wie Ihr Wesen an dem einmal errungenen Geschöpf zügellos und furchtbar wird und jenem zur Qual –, so mögen Sie versuchen, sich dawider vorzustellen, dass es ein Errungenhaben und Besitzen eines Menschen, so, dass man ihn dann zum eigenen [oft so verhängnisvoll bedingten] Genuss gebrauchen dürfte, ja: dass es ein Gebrauchen eines Menschen nicht gibt, nicht geben darf, nicht geben kann, – und Sie werden jene Entfernung und Ehrfurcht sich wiederherstellen sehen, die Sie Ihre Erregung aufs Neue mit jenen Maßen wird messen machen, die während der Werbung die Ihren waren. Es geschieht oft, dass ein Glück wie das, das Sie geliebt und liebend erfuhren, nicht allein neue Kräfte in einem jungen Manne befreit, sondern auch überhaupt andere, tiefere Schichten seiner Natur aufdeckt, aus denen dann die unheimlichsten Funde überwältigend hervorstoßen: Aber unsere Wirrnisse sind seit je ein Teil unserer Reichtümer gewesen, und wo wir vor ihrer Gewalt uns entsetzen, erschrecken wir doch nur vor ungeahnten Möglichkeiten und Spannungen unserer Kraft –; und das Chaos, wenn wir nur ein wenig Abstand davon gewinnen, erregt in uns sofort die Ahnung neuer Ordnungen und, sowie unser Mut an solchen Ahnungen nur im Mindesten sich beteiligen mag, auch schon die Neugierde und die Lust, jenes noch unvorsehliche künftige Ordnen zu leisten! Ich habe das Wort „Abstand“ geschrieben; wenn es etwas wie einen Rat gibt, den ich Ihnen vorzuschlagen mich befähigt fände, so wäre es die Vermutung, dass Sie diesen zu suchen sich bemühen müssen: den Abstand: zu der jetzigen Bestürzung sowohl wie zu jenen neuen Verfassungen und Vermehrungen Ihres Gemüts, die Sie zwar damals, als sie stattfanden, genossen, aber noch gar nicht wesentlich in Ihren Besitz genommen haben. Eine kurze Absonderung, Trennung für ein paar Wochen, ein Sichbesinnen, ein neues Zusammenfassen ihrer überfüllten und losgebundenen Natur böte die meiste Wahrscheinlichkeit zu einer Rettung alles dessen, was in und durch sich selbst sich zu zerstören scheint. Ob ich nun mit meiner ersten Lesart recht habe oder mit der anderen der Wirklichkeit Ihres Erleidens und Leidenmachens näher bin –, oder ob überhaupt noch ganz anderes aus Ihren wenigen Zeilen wäre zu erfassen gewesen: Jener einzige Rat könnte in keinem Falle im Unrecht sein. Nichts legt die Menschen so sehr im Irrtum fest wie die tägliche Wiederholung dieses Irrtums – und wie viele in schließlich erstarrtem Schicksal aneinander gebundene Menschen hätten durch kleine, reine Trennungen jenen Rhythmus sich sichern können, durch den die geheimnisvolle Beweglichkeit ihrer Herzen in der tiefen Nähe des inneren Welt-Raums unerschöpflich geblieben wäre, von Wandel zu Wandel. Dies wäre alles, das Wenige, womit ich versucht haben dürfte, Ihr Anvertrauen zu erwidern. Mögen Sie sich bald zuversichtlicher fühlen. R. M. R. PS: Obgleich Ihre in diesem Augenblick einzutreffende Karte den ihr zuvorgegangenen Brief zurückruft und gewissermaßen zurücknimmt, so mag ich doch den meinen deshalb nicht auch widerrufen. Umso besser, wenn Sie, was er Ihnen zu sagen versucht, schon selbst gefunden und begonnen haben: Der mutige klare Ton Ihrer Karte lässt mich solches vermuten. |