Rainer Maria Rilke |
An Anita Forrer Gut Schönenberg bei Pratteln, 22.–24. März 1920 Liebe Anita, rasch, ich will versuchen der Reihe nach zu antworten, so sehr Fragen wie diese Ihrigen nicht eigentlich zu beruhigen sind – ich will’s versuchen. Die theosophischen Richtungen und Bewegungen, deren es die verschiedensten gibt, gehen wohl alle aus dem Bestreben hervor, die feineren und geheimeren Errungenschaften, die ein jahrtausendelanger Umgang mit dem Göttlichen hervorgebracht hat, nicht verloren zu geben; denn die Kirchen selbst sind ja höchstens die Bewahrer dieses Erbgutes, es trägt keine Zinsen in ihnen, die Gefahr wäre zu groß, dass der Andrang der Geheimnisse jede kirchliche Organisation von innen her zersprängte oder doch mindestens fortwährend auflöste. Die Kirche selbst nun, die sich [welche es nun auch sei] eine eigentliche Produktivität auf ihrem eigensten Boden nicht mehr zutraut, hat kein Interesse daran, ihre lebendigsten und wunderbarsten Voraussetzungen im Einzelnen zu beleben, sie wiederholt sich in den Konsequenzen ihres Ursprungs: Diesen aber will sie im Ganzen geglaubt und hingenommen wissen. Theosophische Bestrebungen indessen gehen von der Vermutung aus, dass das Geheimnis dort aufzusuchen sei, wo es seine eigentümliche Spannung hat, dass zuletzt nicht die Zuwendungen und Verabreichungen der Kirche, sondern die unmittelbare Erfahrung des Verkehrs mit Gott das uns zutiefst Belebende sei – und so richten sie ihre Schulen [die die Kirchen ihrerseits gar nicht peripher genug anlegen können] viel näher am Zentrum ein, in einer Sphäre größerer Dunkelheit, in der aber auch die Spannung und Bindung zu Gott lebhafter und dringender ist und von vielfältigerer Nachweisung. Die Kirchen setzen den Glauben als das Maß der Beziehung, die theosophischen Bewegungen meinen, ein näheres Erleben Gottes und ein ununterbrochenes Wissen von ihm denjenigen zu erschließen, die sich ihnen anvertrauen. Die Christian Science endlich hängt mit den Bestrebungen der Theosophie insofern nahe zusammen, als auch sie darauf ausgeht, die am Übersinnlichen und Göttlichen gewonnenen Erfahrungen innerhalb des Gebrauchs zu erhalten und zwar weniger als ein Wissen, sondern geradezu als Kraft, die, einmal an Gott geprüft, fortab unter den Menschen von einem zum andern leitend und wirkend zu machen wäre. Die Kirchen kennen, in verschiedener Abwandlung, die Macht des Gebets – [es ist ohne Zweifel eine der größten Zusammenfassungen des menschlichen Gemütes, die wir so nennen], die Christian Science wendet eben diese sonst zu Gott gespannte Intensität auch an den Nächsten und an die Dinge, sie macht den an Gott abgebrochenen Willen zum Werkzeug aller übrigen Verrichtungen und überwindet so auf ihre Weise die Gleichgültigkeit, die den Zwischenraum von Mensch zu Mensch immer wieder zur Leere werden lässt. So sehr nun auch diese verschiedenen Organisationen, die rasch in einen Zustand der „Verkirchung“ geraten, sich zu widersprechen und gegenseitig auszuschließen meinen, es ließen sich aus ihnen die mannigfaltigsten Kombinationen zusammenziehen, und es wäre am Ende nur eine Frage des persönlichen Bedürfnisses, wie viel der Einzelne aus der oder jener Lehrgemeinschaft für sie entnähme. Nun trifft aber das Merkwürdige zu, dass gerade auf dem Gebiete des religiösen, als auf Gott bezogenen oder beziehbaren Erlebens, die Bedürfnisse so wenig entwickelt sind, dass nur wenige Menschen zu sagen vermöchten, welche die ihrem persönlichen Gottesumgang günstigsten Bedingungen sind. Die landläufige Frage, ob einer „an Gott glaube“, scheint mir schon [so wie wir sie heute hören] aus der falschen Voraussetzung hervorzugehen, als ob Gott auf dem Wege menschlicher Anstrengung und Überwindung überhaupt zu erreichen sei; denn immer mehr ist dem Begriff „Glauben“ die Bedeutung von etwas Mühsamem zugewachsen, ja sie hat gerade innerhalb des christlichen Bekenntnisses einen Grad angenommen, der befürchten ließe, dass eine Art Unlust zu Gott der ursprüngliche Zustand der Seele sei. Nichts aber ist weniger zutreffend. Nehme jeder des Momentes wahr, da der Verkehr mit Gott sich ihm in unbeschreiblicher Hinreißung eröffnet; oder knüpfe er, in gründlicher Besinnung, an einen solchen oft unscheinbaren Augenblick an, da er zuerst, unabhängig von den Einflüssen seiner Umgebung, ja oft im Widerspruch zu ihr, von Gott ergriffen war. Es wird sich nicht leicht ein Leben finden, in welchem dieses Ereignis nicht früher oder später seine Stelle sich erzwingt, aber die Sanftheit dieses Zwanges ist so ungemein, dass die meisten, von ausdrücklicheren Realitäten bedrängt, ihm keinen Wert beilegen; oder sie kommen zumindestens nicht auf die Idee, es könne sich da um ein religiöses Faktum handeln, eben weil sie schon dazu erzogen sind, religiöse Anstöße nur innerhalb der allgemeinen Vereinbarung zu empfangen, nicht dort, wo ihr Einsamstes und Eigentümlichstes in Frage steht. Und genau wie der Entwicklung eines Gott-Verhältnisses die Haltung der Gemeinden und Kirchen im Wege ist, indem sie dem Erlebnis des Einzelnen mit ihren Satzungen und Versprechungen zuvorkommt und ihn recht eigentlich ablenkt von denjenigen Anlässen, über denen er religiös produktiv zu werden vermöchte, – so ist der Einzelne auch dort, wo es sich um seine Stellung zum Tode handelt, von der Strömung der Konventionen fortgerissen und meistens nicht stark genug, an jener Stelle zu bleiben, auf der er seine eigenen Todes-Erfahrungen zu bestimmenden Gegebenheiten seines Lebens entwickeln könnte. Die Frage um ein „Leben nach dem Tode“ wird sinnlos, sobald wir zugeben müssen, dass, was wir unter dem Namen „Leben“ zusammenfassen, lediglich jetzige und hiesige Erscheinungen sind, an diese Hiesigkeit und unsere sie aufnehmenden Sinne in dem Maße gebunden, dass wir für jedes „andere“ Leben auch gleich eine völlig andere Bezeichnung finden müssten. Diese Bezeichnung ist ohne weiteres mit dem Begriffe „Tod“ gegeben, unter dem wir, ohne Zudringlichkeit und Neugierde, alles das vermuten dürfen, was außerhalb unseres irdischen Daseins liegt. Es gab im Laufe der Zeiten immer wieder solche, die meinten, mit ausreichenden Beweisen versehen zu sein dafür, dass dieser sogenannte Tod ein Ende einen Zustand des Zerfalles und strengen Abbaus alles Lebendigen bedeute –, aber auch die ganz entgegengesetzte Meinung hat immer wieder Vertreter und Verteidiger gefunden, ja man ist da so weit gegangen, das Totsein als einen intensiveren Grad des Lebens anzusprechen und seine Immobilität geradezu als einen Beweis anzuführen für die stärkere Schwingungsintensität, in der es, lebender also als wir, begriffen sei. Der Augenschein spräche nicht dagegen, da wir ja, um ein Beispiel zu nennen, die Bewegung eines Schnellzuges noch mit dem ganzen Körper fühlen, die ungeheuer größere Geschwindigkeit der Erde aber, unserer Erfahrung nach, für Stillstand halten müssten. Mich selbst [wenn Sie danach fragen] hat es von Jugend auf wahrscheinlich geschienen, dass der Tod nichts weniger als ein Gegenteil und die Widerlegung des Lebens sei; meine Neigung ging immer mehr dahin, ihn zur Mitte des Lebens zu machen, als ob wir recht eigentlich in ihm geborgen und aufgehoben wären als in der großartigsten und tiefsten Vertraulichkeit. Ich kann nicht sagen, dass je irgendein Ereignis diese Vermutung in mir bestritten hätte; aber ich habe mir andererseits auch immer verwehrt, mir dieses Im-Tode-Sein irgendwie auszumalen, alle vorhandenen Beschreibungen eines „Jenseits“ haben mich immer durchaus gleichgültig gefunden. Die Aufgaben unseres irdischen Lebens sind so zahlreich, die Jahrtausende Menschheit, weit entfernt, sie zu bewältigen, scheinen sozusagen noch in den ersten Entdeckungen zu stecken, woher sollte man unter diesen Umständen das Recht nehmen, einen etwa künftigen Zustand erraten zu wollen, statt sich mit aller Bereitschaft an denjenigen anzuwenden, der uns für so kurze Frist zugemutet ist. Ich meine damit nicht, dass wir von den uns umgebenden Geheimnissen absehen sollten; aber wir sollten es für unsere Pflicht halten, sie zu unserer jetzigen Lage in Beziehung zu setzen und nicht leichtsinnig einen Standpunkt aufgeben, in dem alle uns vorderhand gewährten Vorzüge zusammentreffen. Wir wissen noch gar nicht, wie weit wir von hier aus reichen können, aber unsere Spannung nimmt sicher in dem gleichen Maße zu, als wir uns hier befestigen. Was zu dieser Befestigung beiträgt, mag der Einzelne für sich ermessen und mag danach handeln – ich kann mir [streng genommen] niemanden denken, der aus Theorien, wie jene von der „geistigen Mutter“ ein besonderes glückliches Wachstum gewänne. Es fehlt allen solchen Zudringlichkeiten der richtige Verstand des Geheimnisses und [man muss es schon so ausdrücken] der Takt, mit ihm umzugehen. Das Geheimnis [ich meine immer, es gibt nur eines, aus dem Tod und Leben in unerschöpflichen Verwandlungen hervorgehen] ist sicher unabhängig von dem Geheimtun aller solcher Erdenkungen; denn das Geheimnis ist geheim, seinem Wesen nach, nicht aber weil es versteckt wäre. So kann es auch gar nicht aufgedeckt und überrascht werden –: Es sieht uns beständig an, und hundert Mal am Tage ruht unser Blick in seinem, nach anderen Maßen schauenden Auge … Ich bin Österreicher, übrigens in Prag geboren, bin mir aber der vielfältigen Zusammensetzung der österreichischen Natur, in deren deutsche Mitte einerseits das Lateinische, andererseits das Slavische weit hineinreicht, von Kindheit an eigentümlich bewusst gewesen; ein Heimatgefühl überkam mich zuerst im Jahre 1899 in Moskau: Ich musste mit einem Schlage im russischen Wesen, das mir Vertrauteste erkennen und erfahren, in einer wie vagen und unzusammenstimmenden Umgebung ich bis dahin gelebt hatte. Diese Einsicht ist mir grundlegend geblieben –, so viel und so gern ich sonst in vielen anderen Ländern gelebt habe, eigentliche Verbundenheit empfinde ich nur zu der russischen Erde und ihren mir brüderlichen Geschöpfen. Eine gewisse Reife und Durchsichtigkeit der skandinavischen Welt, die ich von Kopenhagen aus im südlichen Schweden günstig aufnehmen konnte, nachdem ich aus den wunderbarsten Büchern [Jacobsen, H. Bang, Selma Lagerlöf u. s. f.] auf sie vorbereitet war, hat mich bewogen, die erfundene Gestalt des Malte Laurids Brigge mit jener Heimat auszustatten. Dass dem Leben des junge Dänen Einzelheiten und Eindrücke des meinigen vielfach unterlegt worden sind, mag ich nicht leugnen; immerhin besteht ein sehr großer Unterschied zwischen uns: Er ging an eben denjenigen Bedingungen zugrunde, aus denen heraus ich überstehe und ihn überlebe. Hab ich [so gut das eben in solchen Anmerkungen möglich ist] alles beantwortet, liebe Anita? – Eines bleibt, die Frage: Ob ich zuweilen, auch ohne den Anlass Ihres Briefes, an Sie denke? – Müsste die verneint werden –, schriebe ich dann diese vielen Seiten auf die Ihrigen hin? – Urteilen Sie selbst! Rainer. |