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Rainer Maria Rilke

An Elisabeth Freiin Schenk zu Schweinsberg

Paris, am 4. November 1909

Liebes Fräulein von Schenk,

es ist jedes Mal eine Freude für mich, Sie zu lesen, und meine erste Bewegung ist immer, Ihnen gleich zu antworten. Diesmal will ich es auch wirklich tun.

Sie müssen doch eigentlich, von Anlage her, ein sehr guter Maler sein; denn, selbst schreibend, gebrauchen Sie für alles, was zu sagen ist, reine, starke Grundfarben und setzen eine jede so klar und sicher neben die andere. Und nun vom Malerischen ganz abgesehen: Diese Fähigkeit, die Dinge des Lebens unvermischt und einfach in den großen Grundtönen zu erfassen, scheint mir auch sonst eine glückliche; meint man doch, es müsse dann jedes zusammenfassende Erlebnis, wie eine Kristalllinse, Ihnen wieder aus allen Einzelheiten das reine Sonnenlicht zusammenbilden und Sie mitten hineinstellen in seine Einheit und Wärme.

Dieses Fortgehen Ihrer Schwester, unter dessen Wirkung Sie stehen, berührt mich stärker, als Sie wissen können. Warum Menschen, die sich lieb haben, voneinandergehen, eh es nötig ist? – ja: vielleicht, weil diese Notwendigkeit jeden Augenblick heraustreten und fordern kann. Weil es doch etwas so sehr Vorläufiges ist: beisammen zu sein und sich lieb zu haben. Weil dahinter doch in jedem – oft eingestanden, oft verleugnet – die merkwürdige Gewissheit wartet, dass alles, was über ein schönes, in seinem Wesen fortschrittloses Mittelmaß hinausreicht, doch völlig allein, als von einem unendlich Einzelnen [fast Einzigen] wird empfangen, ertragen und bewältigt sein müssen. Die Stunde des Sterbens, die diese Einsicht einem jeden abringt, ist nur eine von unseren Stunden und keine ausnahmsweise: Unser Wesen geht immerfort in Veränderungen über und ein, die an Intensität vielleicht nicht geringer sind als das Neue, Nächste und Übernächste, das der Tod mit sich bringt. Und so wie wir einander an einer bestimmten Stelle jenes auffallendsten Wechsels ganz und gar lassen müssen, so müssen wir, streng genommen, einander jeden Augenblick aufgeben und weiterlassen und nicht zurückhalten. Macht es Sie bestürzt, dass ich das alles so hinschreiben kann, wie einer, der einen Satz in einer fremden Sprache abschreibt, ohne zu wissen, was Schmerzlichstes er bedeutet? Das ist, weil diese furchtbare Wahrheit wahrscheinlich zugleich auch unsere fruchtbarste und seligste ist. Wenn man oft mit ihr umgeht, so verliert sie zwar nichts von ihrer harten Erhabenheit [und legte man sich weinend um sie, – man erwärmte und erweichte sie nicht]; aber das Vertrauen zu ihrer Strenge und Schwere nimmt täglich zu, und auf einmal meint man, wie durch klare Tränen, die ferne Einsicht zu ahnen, dass man selbst als ein Liebender das Alleinsein nötig hat, dass einem Weh, aber nicht Unrecht geschieht, wenn es einen mitten in einem zu einem geliebten Menschen hinstürzenden Gefühl überfällt und einschließt: ja dass man sogar dieses scheinbar Gemeinsamste, das die Liebe ist, nur allein, abgetrennt, ganz ausentwickeln und gewissermaßen vollenden kann; schon deshalb, weil man im Zusammenschluss starker Neigungen eine Strömung von Genuss erzeugt, die einen hinreißt und schließlich irgendwo auswirft; während dem in seinem Gefühl Eingeschlossenen die Liebe zu einer täglichen Arbeit wird an sich selbst und zu einem fortwährenden Aufstellen kühner und großmütiger Anforderungen an den anderen. Wesen, die einander so lieben, rufen unendliche Gefahren um sich auf, aber sie sind sicher vor den kleinen Gefährlichkeiten, die so viele große Gefühlsanfänge ausgefranst und zerbröckelt haben. Da sie einander immerfort das Äußerste wünschen und zumuten mögen, kann keiner dem anderen durch Beschränkung Unrecht tun; im Gegenteil, sie erzeugen sich gegenseitig unaufhörlich Raum und Weite und Freiheit, genau wie der Gottliebende für Gott zu allen Zeiten Fülle und Vollmacht aus seinem Herzen ausgeworfen und in den Tiefen des Himmels gegründet hat. Dieser erlauchte Geliebte hat die vorsichtige Weisheit, ja [es kann nicht missverstehbar sein, es so zu sagen] die edle List gebraucht, sich nie zu zeigen; so dass die Liebe zu Gott zwar in einzelnen ekstatischen Seelen zu eingebildeten Momenten des Genusses führen konnte, – aber doch, ihrem Wesen nach, ganz und gar Arbeit geblieben ist, härtester Taglohn und schwierigste Bestellung.

Messen Sie doch aber nun an dieser Liebe, an ihrer Großartigkeit und ihrem Ertrag durch die Zeiten hin jeden Liebesversuch, der weniger einsam, weniger verzweifelt, wenn Sie wollen, – der befriedigter war: so werden Sie [nicht mehr erschrocken, nein, unbeschreiblich zustimmend, in glücklichem Schrecken höchstens] zugeben, dass auch zwischen Menschen nur diese gewaltigste Liebe recht hat, die einzige, die diesen Namen verdient. Ist – hier endlich erst schließt sich mein Kreis – die Ahnung solcher Einsicht nicht vielleicht die Ursache, warum Menschen, die sich lieb haben, voneinander gehen –?

Verzeihen Sie, ich meinte auch, es würde ein bequemer Weg werden, und nun hab ich Sie plötzlich mitgenommen ins Hochgebirge, wo es kalt ist und glänzend und ohne gewohntes Wachstum. Aber Sie hatten gefragt, und ich musste so weit steigen, um Ihnen meine Antwort in den Zusammenhängen zu zeigen, in denen allein sie nicht trostlos aussieht, sondern [das fühlen Sie doch] – gut, oder einfach seiend über alles Urteil hinaus, wie die Natur seiend ist, die uns nicht verstehen will und uns doch hält und uns hilft.

Dagegen ist da ein anderes, was ich nicht weiß. Wissen Sie es? Wie man, ein junger Mensch, ein junges Mädchen, fortgehen kann, um irgend fremde Kranke zu pflegen? Ich möchte dies gerne sehr bewundern, und ich fühle, dass man es gar nicht genug bewundern kann. Aber in dieser Überzeugung stört mich etwas, wie die Unruhe, dass unsere Zeit schuldig würde an solchen unverhältnismäßigen Entschlüssen; ist nicht etwas Auflösendes in ihr, das vielen großwilligen Kräften die natürlichen Angriffspunkte nimmt? Denken Sie, dies berührt mich ganz ähnlich wie der Umstand, dass nun alle größesten Gemälde und Kunstdinge in Museen sind und niemandem mehr gehören. Man sagt freilich: Da gehören sie allen. Aber an diese Allgemeinheit kann ich mich gar nicht gewöhnen; ich bekomme sie nie zu glauben. Soll nun wirklich alles Wertvollste so ins Allgemeine gehen? Das ist, ich kann mir nicht helfen, als öffnete man draußen im Freien einen Flakon Rosenöl und ließe ihn offen; gewiss ist seine Stärke da irgendwo im Luftraum, aber so zerstreut und auseinandergenommen, dass dieser dichteste Duft für unsere Sinne doch als verloren gelten muss. Ich weiß nicht, ob Sie erkennen können, was ich meine.

Rodin, an den Sie denken, kommt öfters eine Stunde zu mir, und das ist dann natürlich immer eine sehr schöne. Gleichwohl würde sein Gesicht Sie nicht auf den ersten Blick so eindeutig froh machen, wie noch vor zwei Jahren: Es ist jetzt manchmal müde; es hat sogar Konstellationen von Traurigkeit, die ich nicht an ihm kannte .Dabei wird die erhabene Lebensmaske gewiss nicht geringer, – aber sie wird – wie soll ich es ausdrücken – tragischer, im Sinne jener antikischen Tragik, in deren Bezirk selbst Götter und Himmel hinreichten, die sich aber doch zuletzt im Irdischen schloss, als ein Kreis, dessen Wesen und Ewigkeit es ist, aus sich selbst nicht hinauszufinden.

Für Sie stell ich es mir schön vor, dass Sie unseren Capreser Pfarrer [ich kann seinen Namen sagen, aber nicht schreiben] manchmal sehen und so die Vibrationen eines ernsten und zur Tiefe entschlossenen Daseins in sich hinüberschwingen fühlen. Er ist wohl immer in reicher innerer Entwicklung gewesen, auch damals auf Capri, und solche Menschen, die aufrichtig in sich herumgehen, können nicht enttäuschen. Er hätte sicher kein Buch geschrieben, wenn er nicht gefühlt hätte, dass es ein notwendiges und gutes werden wird; eines, das nicht zu schreiben ihm unmöglich gewesen wäre. Nun ist es also da und hat Wirklichkeit. Wenn es unter die Leute kommt, ist daneben ja nicht so wichtig. Dass die ununterdrückbaren Bücher gemacht sind, dass sie vorhanden sind, dass man sie nicht mehr für bloße Imaginationen halten kann: dies scheint mir immer das Entscheidende zu sein.

Aber nun muss ich Ihnen, wie nach unbescheiden lang ausgedehntem Besuch, das kürzeste Lebewohl sagen; verzeihen Sie, dass ich mich zu so vielem Schreiben habe gehen lassen; es kommen leicht wieder Wochen, da ich mir Briefe – auch die, die ich gern schriebe – verweigern muss, – und wenn Ihnen dieser auf einen Schluck zu viel ist, so tun Sie ihn beiseite und nehmen Sie ihn zu sich, als käme er nach und nach an.

Das Merkwürdige hab ich dabei gar nicht erzählt: Dass ich wochenlang in Avignon gewohnt habe und dass der Aufenthalt in dieser zweiten päpstlichen Stadt, in der die Masse eines unbeschreiblichen Palastes sich erhält, mich zu vielen, ganz und gar ungewöhnlichen Eindrücken angeleitet hat … aber wie dürfte ich jetzt davon anfangen.

Ich danke Ihnen nur noch, zum Schluss, für Ihr gutes Gedenken; Sie fühlen, dass ich es in der herzlichsten Ergebenheit erwidere und Sie aufrichtig bitte, bleiben zu dürfen

Ihr

RMRilke

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