Rainer Maria Rilke |
An Marlise Gerding Paris, am 14. Mai 1911 Ihr Brief, Fräulein Gerding, hat mich beschäftigt und tut es wieder, da ich ihn wiederlese; nur der Umstand, dass ich weit auf Reisen war [er erreichte mich, glaube ich, in Algier oder Tunis], hat es mit sich gebracht, dass ich ihn vernachlässigte, und möge mich, soweit das möglich ist, bei Ihnen entschuldigen. Es wird einer Antwort am nächsten kommen, wenn ich Ihnen beschreibe, wie der erste Teil des „Stundenbuchs“ zu entstehen kam. Es ist lange her, ich wohnte damals in der Nähe Berlins, halb auf dem Land, und war mit anderen Arbeiten beschäftigt. Da stellten sich mir, seit einer ganzen Zeit schon, morgens beim Erwachen oder an den Abenden, da man die Stille hörte, Worte ein, die aus mir austraten und im Recht zu sein schienen, Gebete, wenn man will, – ich hielt sie dafür, ja nicht einmal: Ich sprach sie hin und ordnete mich an ihnen für das Unbekannte des Schlafs oder des beginnenden Tags. Aber endlich fiel mir die Stärke und das Wiedereinsetzen dieser inneren Diktate doch auf, ich begann eines Tages, Zeilen davon aufzuschreiben, das Aufschreiben selbst bestärkte und lockte die Eingebung, zu der unwillkürlichen Freude der inneren Bewegtheit kam die Lust an dem, was nun schon Arbeit war, und über diesem Eingehen auf eine innere Akustik bildete sich in steten Fortschritten das heraus, was Sie als das „Buch vom mönchischen Leben“ kennen. Die anderen Abschnitte sind später entstanden: Da war es natürlich nicht mehr möglich, sich über die Entstehung zu täuschen, sie waren Arbeit vom ersten Augenblick an, aber diese Arbeit war niemals eine vorausgesehene oder beabsichtigte: Sie brach aus unter der Not der inneren Verschiebungen, mitten aus ihnen, und war weder zu rufen noch zu unterdrücken. Insoweit ist dieses Buch ein im wirklichsten Sinn aufrichtiges, mit allen Anzeichen des Nicht-anders-Könnens, wie der Schrei sie an sich hat, den man zurückhielt und der sich plötzlich doch losreißt, ohne Rücksicht darauf, ob für ihn Raum ist in der dichten Welt. Andererseits, von der Arbeit aus gesehen, hat es die Lust aller Kunst an sich selbst und ist dadurch anders als das Gebet, hat eine Eitelkeit, die das Gebet nicht besitzt. Aber was ist Gebet, – wissen wirs? Denken Sie, dass mir alle Frömmigkeit unbegreiflich oder gleichgültig ist, die nicht erfindet, die nachspricht, die innerhalb des Vorhandenen sich mit Hoffnungen und Preisgaben einrichtet. Das Verhältnis zu Gott setzt, so wie ich es einsehe, Produktivität, ja irgendein, ich möchte sagen, wenigstens privates, die anderen nicht überzeugendes Genie der Erfindung voraus, das ich mir so weit getrieben denken kann, dass man auf einmal nicht begreift, was mit dem Namen Gott gemeint ist, sich ihn wiederholen, sich ihn vorsagen lässt, zehnmal, ohne zu verstehen, nur um ihn ganz neu, irgendwo an seinem Ursprung, an seiner Quelle aufzusuchen. Dies ist etwa die Beimischung Unglauben im Stundenbuch, Unglauben nicht aus Zweifel, sondern aus Nichtwissen und Anfängerschaft. Wollen Sie mich wieder von sich lesen lassen? Es kann sein, wir haben einander Freude und Hilfe zu bereiten. Ihr ergebener Rainer Maria Rilke |