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Rainer Maria Rilke

An Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy

Château de Muzot sur Sierre, am Dreikönigstag 1923

Meine verehrte gnädigste Gräfin,

noch vor einigen Tagen las ich Ihren frohen Brief aus dem Sommer wieder und begriff gar nicht die Säumigkeit meiner Brieffeder, die diese gütigen, in so vielfacher Weise mitteilsamen Zeilen so lange unerwidert lassen konnte. Und doch schrieb ich nicht gleich! Es ist, als ob meine Feder – leider hat man ja die Gleiche für alles Schriftliche, Arbeit und Korrespondenz – sich durchaus eine Ruhe erzwingen wollte nach den großen Anstrengungen des vorigen Jahrs … Und auch ich selbst: Einer solchen Arbeitsausgabe folgte jedesmal ein Ratlossein, nicht dass man eigentlich leer wäre, aber bestimmte Vorräte des eigenen Wesens sind verwandelt, sind fortgegeben und gleichsam dem eigenen persönlichen Gebrauche für immer entzogen. Man mag sich nicht sofort nach anderem innerem Besitz umsehen – man weiß eigentlich nicht, was man mag, es ist ein Zustand des Zögerns, des Sich-langsam-Umwendens – und es zeigt sich, dass man in solcher Zeit ungern „Ich“ sagt, denn was wäre, ohne Anstrengung und Zwang, von solchem Ich auszusagen? Oft in solchen Momenten, früher, kam mir dann ein äußerer Wechsel zustatten, was sowohl dem Ausruhen wie dem Neuanfangen günstig war [– ein Teil meiner Unstetheit mag sich sogar daraus erklären, dass ich jedesmal nach Ablauf einer derartigen Intensitätsperiode jede Veränderung, die sich von außen anbot, als eine Hilfe hinnahm …]; auch diesmal wäre es vielleicht so gekommen, ich war entschlossen, Muzot zu verlassen, sei es, um wieder nach Paris zu ziehen [was für gewisse Studien, die ich vorhabe, längst geboten wäre], sei es, um unsere – mir selber noch unbekannte – Urheimat Kärnten, aufzusuchen und zu sehen, ob dort eine Niederlassung möglich wäre … Das Familienwappen, ich glaube mit einer Jahreszahl des 14ten Jahrhunderts, soll noch im Ständehaus in Klagenfurt, immer wieder aufgefrischt, vorkommen – und ich, nicht allein weil ich der letzte Männliche meines Stammes bin, fühlte mich ganz geeignet, einen solchen weiten Kreis durch eine Art Heimkehr dorthin, wenn das ohne Gewaltsamkeit möglich ist, zu schließen, um mich für einige Zeit dort anzusiedeln, von wo wir, wie Legende und Überlieferung versichert, ausgegangen sind! [„Csakathurm“, wie es heißt, eines der ältesten Lehnsgüter der Kärntner Rilke, ist ja nun, wenn ich nicht irre, ein erblicher Besitz und Titel in der Familie der Grafen Festetics, Ihrer Verwandten!] – Aber dann war der mindeste Versuch, beweglich zu werden, sofort mit so viel Schwierigkeiten verbunden, dass ich mehr und mehr nachgab und mich noch für einen Winter auf Muzot einschloss, im besten Entschluss, auch die diesmalige Klausur so fruchtbar als möglich zu machen. Ich nahm denn auch gleich verschiedene Übersetzungsarbeiten auf, die mich wohl durch die stillen Monate hin reichlich beschäftigen werden, und ich würde darin schon weiter sein, wenn nicht gesundheitliche Störungen sich über jeder etwas heftigeren Anstrengung oder Erregung einstellten, offenbar auch eine Folge der etwas forcierten Leistung der vorigen Arbeitsperiode.

Das alles von mir, liebe Gnädigste Gräfin! Wo Ihr neuester Brief doch so unmittelbaren und unvermutet schmerzlichen Anlass gebracht hat, von Ihnen und zu Ihnen zu reden. Aber gerade weil dieses so sehr not tut, wollte ich mich Ihnen, nach so langem Schweigen, erst wieder tatsächlich gegenwärtig gemacht haben, damit die warmen Worte der Teilnehmung, die Ihnen zuzuwenden ich mich aufs natürlichste gedrängt fühle, nicht aus zu vagem Ursprung zu Ihnen hinüberkämen. Damit Sie umso besser fühlen, wer sie spricht und aus welcher Lage. Worte …, können es solche der Tröstung sein? – Ich bin dessen nicht sicher, ich glaube auch nicht recht, dass man sich über einen Verlust von der Plötzlichkeit und Größe dessen, den Sie erlitten haben, trösten kann oder soll …

„Wehe denen, die getröstet sind“, so ähnlich notiert die mutige Marie Lenéru in ihrem merkwürdigen „Journal“, und hier wäre ja auch Trost eine der vielen Ablenkungen, eine Zerstreuung, also im Tiefsten ein Leichtsinniges und Unfruchtbares. – Selbst die Zeit „tröstet“ ja nicht, wie man oberflächlich sagt, sie räumt höchstens ein, sie ordnet, – und nur weil wir die Ordnung, zu der sie so still mitwirkt, später so wenig genau nehmen, ja sie so wenig betrachten, dass wir das nun Eingestellte und Besänftigte, im großen und ganzen Versöhnte, statt es dort zu bewundern, nur weil es uns nicht mehr so wehe tut, für eine unsrige Vergesslichkeit und Schwäche des Herzens halten. Ach wie wenig vergisst es, das Herz – und wie stark wäre es, wenn wir ihm nicht seine Aufgaben entzögen, ehe sie völlig und eigentlich geleistet sind! – Nicht sich trösten wollen über einen solchen Verlust, müsste unser Instinkt sein, vielmehr müsste es unsere tiefe schmerzhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen, die Besonderheit, die Einzigkeit gerade dieses Verlustes, seine Wirkung innerhalb unseres Lebens zu erfahren, ja wir müssten die edle Habgier aufbringen, gerade um ihn, um seine Bedeutung und Schwere, unsere innere Welt zu bereichern … Ein solcher Verlust ist, je tiefer er uns trifft, und je heftiger er uns angeht, desto mehr eine Aufgabe, das nun im Verlorensein hoffnungslos Betonte neu, anders und endgültig in Besitz zu nehmen: Dies ist dann unendliche Leistung, die alles Negative, das dem Schmerz anhaftet, alle Trägheit und Nachgiebigkeit, die immer einen Teil des Schmerzes ausmacht, auf der Stelle überwindet, dieser ist tätiger, innen wirkender Schmerz, der Einzige, der Sinn hat und unserer würdig ist.

Ich liebe nicht die christlichen Vorstellungen eines Jenseits, ich entferne mich von ihnen immer mehr, ohne natürlich daran zu denken, sie anzugreifen …; sie mögen ihr Recht und Bestehen haben, neben so vielen anderen Hypothesen der göttlichen Peripherie – aber für mich enthalten sie zunächst die Gefahr, uns nicht allein die Entschwundenen ungenauer und zunächst unerreichbarer zu machen –; sondern auch wir selber, uns in der Sehnsucht hinüberziehend und fort von hier, werden darüber weniger bestimmt, weniger irdisch: Was wir doch, vor der Hand, so lange wir hier sind, und verwandt mit Baum, Blume und Erdreich, in einem reinsten Sinne zu bleiben, ja immer erst noch zu werden haben!

Was mich angeht, so stark mir, was mir starb, sozusagen in mein eigenes Herz hinein: Der Entschwundene, wenn ich ihn suchte, nahm sich in mir eigentümlich und so überraschend zusammen, und es war so rührend zu fühlen, dass er nun nur noch dort sei, dass mein Enthusiasmus, seiner dortigen Existenz zu dienen, sie zu vertiefen und zu verherrlichen, fast in demselben Augenblick die Oberhand bekam, in dem sonst der Schmerz die ganze Landschaft des Gemüts überfallen und verwüstet haben würde. Wenn ich mich erinnere, wie ich – oft bei äußerster Schwierigkeit, einander zu verstehen und gelten zu lassen – meinen Vater geliebt habe! Oft in der Kindheit verwirrten sich die Gedanken, und das Herz erstarrte mir über der bloßen Vorstellung, er könne einmal nicht mehr sein; mein Dasein schien mir so völlig durch ihn bedingt [mein von vornherein doch so anders gerichtetes Dasein!], dass sein Fortgehen meiner innersten Natur gleichbedeutend war mit meinem eigenen Untergang … aber so tief steckt der Tod in der Liebe, dass er [wenn wir ihn nur mitwissen, ohne uns durch die ihm angehängten Hässlichkeit und Verdächte beirren zu lassen] nirgends widerspricht: Wo schließlich kann er eins, das wir im Herzen getragen haben, anders hin verdrängen, als in eben diese Herz, wo wäre die „Idee“ dieses geliebten Wesens, ja seine unaufhörliche Wirkung [: denn wie könnte die aufhören, die doch schon , da es mit uns lebte, von seiner greifbaren Gegenwart mehr und mehr unabhängig war] … wo wäre diese immer schon geheime Wirkung gesicherter, als in uns?! Wo können wir ihr näher kommen, wo sie reiner feiern, wann ihr besser gehorchen, als wenn sie mit unseren eigenen Stimmen verbunden auftritt, als ob unser Herz eine neue Sprache gelernt hätte, ein neues Lied, eine neue Kraft!

Ich werf es allen modernen Religionen vor, dass sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, satt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sie mit ihm zu vertragen und zu verständigen. Mit ihm, mit seiner völligen, unmaskierten Grausamkeit: Diese Grausamkeit ist so ungeheuer, dass sich gerade bei ihr der Kreis schließt: Sie führt schon wieder an das Extrem einer Milde, die so groß, so rein und so vollkommen klar ist [aller Trost ist trübe!], wie wir nie, auch nicht im süßesten Frühlingstag, Mildigkeit geahnt haben. Aber zur Erfahrung dieser tiefsten Milde, die, empfänden sie nur einige von uns mit Überzeugung, vielleicht alle Verhältnisse des Lebens nach und ach durchdringen und transparent machen könnte: zur Erfahrung dieser reichsten und heilsten Milde hat die Menschheit niemals auch nur die ersten Schritte getan, – es sei denn in ihren ältesten, arglosesten Zeiten, deren Geheimnis uns fast verloren gegangen ist. Nichts, ich bin sicher, war je der Inhalt der „Einweihungen“, als eben die Mitteilung eines „Schlüssels“, der erlaubte, das Wort „Tod“ ohne Negation zu lesen; wie der Mond, so hat gewiss das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins.

Man sollte nicht fürchten, dass unsere Kraft nicht hinreichte, irgendeine, und sei es die nächste und sei es die schrecklichste Todeserfahrung zu ertragen; der Tod ist nicht über unsere Kraft, er ist der Maßstrich am Rand des Gefäßes: Wir sind voll, sooft wir ihn erreichen – und das Voll-sein heißt [für uns] Schwer-sein … das ist alles – Ich will nicht sagen, dass man den Tod lieben soll; aber man soll das Leben so großmütig, so ohne Rechnen und Auswählen lieben, dass man unwillkürlich ihn [des Lebens abgekehrte Hälfte]} immerfort mit einbezieht, ihn mitliebt – was ja auch tatsächlich in den großen Bewegungen der Liebe, die unaufhaltsam sind und unabgrenzbar, jedesmal geschieht! Nur weil wir den Tod ausschließen in einer plötzlichen Besinnung, ist er mehr und mehr zum Fremden geworden, und da wir ihn im Fremden hielten, ein Feindliches.

Es wäre denkbar, dass er uns unendlich viel näher steht, als das Leben selbst … Was wissen wir davon?! Unser effort [dies ist mir immer deutlicher geworden mit den Jahren, und meine Arbeit hat vielleicht nur noch den einen Sinn und Auftrag, von dieser Einsicht, die mich so oft unerwartet überwältigt, immer unparteiischer und unabhängiger … seherischer vielleicht, wenn das nicht zu stolz klingt … Zeugnis abzulegen], … unser effort, mein ich kann nur dahin gehen, die Einheit von Leben und Tod vorauszusetzen, damit sie sich uns nach und nach erweise. Voreingenommen, wie wir es gegen den Tod sind, kommen wir nicht dazu, ihn aus seinen Entstellungen zu lösen … glauben Sie nur, liebe gnädigste Gräfin, dass er ein Freund ist, unser tiefster, vielleicht der einzige durch unser Verhalten und Schwanken niemals, niemals beirrbare Freund … und das, versteht sich, nicht in jenem senitmentalisch-romantischen Sinn der Lebensabsage, des Lebens-Gegenteils, sondern unser Freund, gerade dann, wenn wir dem Hier-Sein, dem Wirken, der Natur, der Liebe … am leidenschaftlichsten, am erschüttertsten zustimmen. Das Leben sagt immer zugleich: Ja und Nein. Er, der Tod [ich beschwöre Sie, es zu glauben!] ist der eigentliche Ja-Sager: Er sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit.

Denken Sie an den „Schlafenden Baum“. Ja, wie gut, dass es mir einfällt. Denken Sie an alle die kleinen Bilder und Zuschriften dazu – wie haben Sie da, im jugendlichen arglosen Vertrauen, immerfort beides in der Welt erkannt und bejaht: das Schlafende und das Wache, das Lichte und das Dunkle, die Stimme und das Schweigen … la présence et l'absence. Alle die scheinbaren Gegenteile, die irgendwo, in einem Punkte zusammenkommen, die an einer Stelle die Hymne ihrer Hochzeit singen – und diese Stelle ist – vor der Hand – unser Herz!

Immer Ihr dauernd ergebener

Rilke

Briefe

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