Worte Bilder Töne Neu Impressum Reinhard
           

Rainer Maria Rilke

An Elisabeth Jacobi

München, am 8. September 1916

… Ich habe nicht den Eindruck, dass die Briefe Ihres Freundes, der Ihnen in jener, bis zum Einzigen, bis zum einzig Seienden gesteigerten Unwirklichkeit fühlbar und mächtig war, anderswo ein rechtes Bestehen führen würden, als eben dort, wo sie sind, bei Ihnen, in Ihrem Vertrauen, in Ihrer hohen, lichten, geschmückten Erinnerung. Sie wollen dem nun Entschwundenen das Denkmal setzen, das er sich selber gestiftet hat, aber Sie bedenken nicht genug, dass der imaginäre Ort, den er selbst für diese Aufrichtung seines heimlichsten Wesens gewählt hat, nicht gut gegen einen allgemeinen und öffentlichen vertauscht werden dürfte, ohne dass der traumhafte Aufbau von Empfindung, Sehnsucht und vorbildloser Erinnerung zusammenbricht.

Ich musste beim Lesen der Auszüge, die sie mir gütigst anvertraut haben, immer an jenes Gewicht gewisser Traumworte denken, die in der Luft des Schlafes so schwer und entscheidend sind, und wenn man sie, mitten im Tag, gewaltsam erinnert, ein wehender Flaum. Um solchen Traumsinn dem Wachen deutlich zu machen, bedürfte es eines weiten Kommentars der Traumverhältnisse, die wir ebenso wenig kennen, wie Sie die Bedingungen und Proportionen anzugeben wüssten, zu welchen Sie und Ihr Freund wunderbar übereingekommen waren.

Das Geheimnis dieser Ihrer Übereinkunft, das weder preisgegeben werden kann noch dürfte, ist doch schließlich die Voraussetzung für jedes Wort, das in jenen zahllosen Briefen an sie gerichtet war, und Sie müssen sich darein finden, dass die Lebensluft dieser Worte eben nur in Ihnen besteht: was eine Beschränkung und zugleich eine Vollmacht ist, denn was könnte eine reichere Grundlage und einen glücklicheren Vorrat Ihres Gemütes bilden, als eben der Schatz jener Mitteilungen und Preisungen, von dem Sie mehr und sicherer als jede in Wirklichkeit angeredete Geliebte behaupten dürfen, dass er nur Ihnen gehöre und nur für Sie passe, weil durch jene ratenden und erfindenden Zuwendungen eine Mitte in Ihnen berührt und berechnet war, von der aus Sie rein und glücklich erlebt worden sind, statt sich selber zu erleben.

Diese lautere, auf keinem Grunde, als Ihrem gegenseitigen Glauben, ruhende Unwirklichkeit war und ist; aber es steht nicht bei Ihnen, sie beweisbar zu machen. Wollen Sie aber das Leben schelten dafür, dass Ihr Herz mit der Zuflucht und Feier, die es einem ergriffenen Unbekannten gewährte, zu einem Orte geworden war, der auf keiner Liebeskarte zu finden ist? Wo es doch des Lebens innigstes Wunder ist: uns in irgendeine Schwebe zu versetzen, aus der wir uns zwar noch mitteilen, aber nicht mehr verraten können …

Briefe