Rainer Maria Rilke |
An Franz Xaver Kappus Viareggo bei Pisa, am 23. April 1903 Sie haben mir, lieber und geehrter Herr, mit Ihrem österlichen Briefe viel Freude gemacht; denn er sagte viel Gutes von Ihnen, und die Art, wie Sie über Jacobsens große und liebe Kunst sprachen, zeigte mir, dass ich nicht geirrt habe, als ich Ihr Leben und seine vielen Fragen an diese Fülle führte. Nun wird sich Ihnen «Niels Lyhne» auftun, ein Buch der Herrlichkeiten und der Tiefen; je öfter man es liest: Es scheint alles darin zu sein von des Lebens allerleisestem Dufte bis zu dem vollen, großen Geschmack seiner schwersten Früchte. Da ist nichts, was nicht verstanden, erfasst, erfahren und in des Erinnerns zitterndem Nachklingen erkannt worden wäre; kein Erleben ist zu gering gewesen, und das kleinste Geschehen entfaltet sich wie ein Schicksal, und das Schicksal selbst ist wie ein wunderbares, weites Gewebe, darin jeder Faden von einer unendlich zärtlichen Hand geführt und neben einen anderen gelegt und von hundert anderen gehalten und getragen wird. Sie werden das große Glück erfahren, dieses Buch zum ersten Male zu lesen, und werden durch seine unzähligen Überraschungen gehen wie in einem neuen Traum. Aber ich kann Ihnen sagen, dass man auch später immer wieder als derselbe Staunende durch diese Bücher geht und dass sie nichts von der wunderbaren Macht verlieren und nichts von der Märchenhaftigkeit aufgeben, mit der sie den Lesenden das erste Mal überschütten. Man wird nur immer genießender an ihnen, immer dankbarer, und irgendwie besser und einfacher im Schauen, tiefer im Glauben an das Leben und im Leben seliger und größer. Und später müssen Sie das wunderbare Buch vom Schicksal und Sehnen der Marie Grubbe lesen und Jacobsens Briefe und Tagebuchblätter und Fragmente und endlich seine Verse, die [wenn sie auch nur mäßig übertragen sind] in unendlichem Klingen leben. [Dazu würde ich Ihnen raten, gelegentlich die schöne Gesamtausgabe von Jacobsens Werken, die alles das enthält, zu kaufen. Sie erschien in drei Bänden und gut übertragen bei Eugen Diederichs in Leipzig und kostet, so viel ich glaube, nur fünf oder sechs Mark pro Band.] Mit Ihrer Meinung über «Hier sollten Rosen stehen …» [dieses Werk von so unvergleichlicher Feinheit und Form] haben Sie natürlich gegen den, der die Einleitung geschrieben hat, ganz, ganz unantastbar recht. Und es sei hier gleich die Bitte gesagt: Lesen Sie möglichst wenig ästhetisch-kritische Dinge, – es sind entweder Parteiansichten, versteinert und sinnlos geworden in ihrem leblosen Verhärtetsein, oder es sind geschickte Wortspiele, bei denen heute diese Ansicht gewinnt und morgen die entgegengesetzte. Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie. Geben Sie jedes Mal sich und Ihrem Gefühl recht, jeder solche Auseinandersetzung, Besprechung oder Einführung gegenüber; sollten Sie doch unrecht haben, so wird das natürliche Wachstum Ihres innern Lebens Sie langsam und mit der Zeit zu anderen Erkenntnissen führen. Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene stille, ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muss und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewussten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen. Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts, Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles! Richard Dehmel: Mir geht es mit seinen Büchern [und nebenbei gesagt auch mit dem Menschen, den ich flüchtig kenne] so, dass, wenn ich eine seiner schönen Seiten gefunden habe, ich mich immer vor der nächsten fürchte, die alles wieder zerstören und das Liebenswerte in Unwürdiges verkehren kann. Sie haben ihn ganz gut charakterisiert mit dem Wort: «brünstig leben und dichten». Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, dass die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen einer und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind. Und wenn man statt Brunst Geschlecht sagen dürfte, Geschlecht im großen, weiten, reinen, durch keinen Kirchenirrtum verdächtigen Sinne, so wäre seine Kunst sehr groß und unendlich wichtig. Seine dichterische Kraft ist groß und wie ein Urtrieb stark, sie hat eigene rücksichtslose Rhythmen in sich und bricht wie aus Bergen aus ihm aus. Aber es scheint, dass diese Kraft nicht immer ganz aufrichtig und ohne Pose ist. [Aber das ist ja auch eine der schwersten Prüfungen an dem Schaffenden: Er muss immer der Unbewusste, der Ahnungslose seiner besten Tugenden bleiben, wenn er diesen nicht ihre Unbefangenheit und Unberührtheit nehmen will!] Und dann, wo sie, durch sein Wesen rauschend, zum Geschlechtlichen kommt, da findet sie keinen ganz so reinen Menschen, wie sie ihn brauchte. Da ist keine ganz reife und reine Geschlechtswelt, eine, die nicht menschlich genug, die nur männlich ist, Brunst ist, Rausch und Ruhelosigkeit, und beladen mit den alten Vorurteilen und Hoffarten, mit denen der Mann die Liebe entstellt und beladen hat. Weil er nur als Mann liebt, nicht als Mensch, darum ist in seiner Geschlechtsempfindung etwas Enges, scheinbar Wildes, Gehässiges, Zeitliches, Unewiges, das seine Kunst verringert und sie zweideutig und zweifelhaft macht. Sie ist nicht ohne Makel, sie ist gezeichnet von der Zeit und von der Leidenschaft, und wenig aus ihr wird dauern und bestehen. [Die meiste Kunst ist aber so!] Aber trotzdem kann man sich an dem, was in ihr Großes ist, tief freuen und muss nur nicht daran verloren gehen und Anhänger jener Dehmelschen Welt werden, die so unendlich bange, voll Ehebruch und Wirrnis, ist und fern von den wirklichen Schicksalen, die mehr leiden machen als diese zeitlichen Trübnisse, aber auch mehr Gelegenheit zu Größe geben und mehr Mut zur Ewigkeit. Was endlich meine Bücher anlangt, so möchte ich Ihnen am liebsten alle senden, die Sie irgend freuen könnten. Aber ich bin sehr arm, und meine Bücher gehören, sobald sie einmal erschienen sind, nicht mehr mir. Ich kann sie selbst nicht kaufen und, wie ich so oft möchte, denen geben, die ihnen Liebes erweisen würden. Deshalb schreibe ich Ihnen auf einen Zettel die Titel [und Verlage] meiner jüngst erschienenen Bücher [der neuesten, im ganzen habe ich wohl 12 oder 13 veröffentlicht] auf und muss es Ihnen, lieber Herr, überlassen, sich gelegentlich mal etwas davon zu bestellen. Ich weiß meine Bücher gerne bei Ihnen. Leben Sie wohl! Ihr: Rainer Maria Rilke |