Rainer Maria Rilke |
An R. S. Schloss Berg am Irchel, am 22. November 1920 Sehr geehrter Herr, Ihr Brief vom 16. Oktober hat weite Umwege gemacht, mich zu erreichen; meine Verspätung ist also nicht ganz so groß, wie es scheinen möchte. Was nun meine Antwort an angeht, so schließt sie mehr an Ihren Brief an, als an die Arbeiten, die Sie ihm mitgegeben haben. Ein „Urteil“ auszusprechen, ist mir da innerlich nicht erlaubt, seit ich weiß, wie sehr mir für eine Abschätzung des Mehr oder Weniger an künstlerischen Versuchen die verschiebbaren Maßstäbe fehlen; ich habe keinen Anschluss an die Erscheinungen der Kunst, als den der Bewunderung, und so bin ich durchaus gemacht, Zeit meines Lebens, Schüler der Größesten zu sein und ihr Anerkenner, als dass ich mich tauglich fände zum Ratgeber derer, die sich noch nicht völlig ins Wesentliche ihrer Aufgaben gefunden haben. Denen darf ich nur wünschen, dass sie den Weg des längsten Lernens freudig einhalten, bis ihnen jenes tiefe verborgene Selbstbewusstsein aufkommt, das ihnen – ohne dass sie jemanden danach fragen müssten – die reine Not, das heißt: Ununterdrückbarkeit und Gründlichkeit ihrer Arbeiten verbürgt. Das innerste Gewissen wach halten, das uns bei jedem ausgebildeten Erlebnis ansagt, ob es so, wie es nun dasteht, ganz und gar in seiner Wahrhaftigkeit und Lauterkeit zu verantworten sei: das ist der Grund jeder künstlerischen Hervorbringung, der auch dort zu schaffen wäre, wo eine in Schwebe erhaltene Inspiration sozusagen des Bodens entbehren kann. Das große endgültige Leid, wie es Ihnen zugefügt worden ist, ist eine eigentümliche Lockung für jene geflügelten Eingebungen, die sich gerne überall dort niederlassen, wo eine Entbehrung größer geworden ist, als irgendein uns vorstellbarer Besitz. Sie konnten nicht anders, als eben dieses vollkommene Leid, von dem Sie merkten, wie sehr es dem Unsichtbaren und Geistigen anziehend sei, in die Mitte Ihres umgeräumten Bewusstseins stellen; es bleibt, mit Recht, die unverschiebbare Stelle, von der aus alle Abstände und Bewegungen Ihrer Erfahrung und Ihres Gemütes zu messen sind. Aber nun müsste, da diese Einrichtung einmal getroffen ist, Ihre stille Übung dahin gehen, dieses zentrale Leid mehr und mehr ohne jeden besonderen Namen zu ertragen, was sich in Ihren künstlerischen Bestrebungen etwa so offenbaren würde, dass dort nirgends mehr zu erkennen wäre, welche unendliche Einschränkung die Veranlassung ist, dass Sie in beschwörender Leistung Anspruch erheben auf einen unendlichen Ausgleich. Kunst kann nur aus rein anonymer Mitte hervorgehen. Aber auch für Ihr Leben [was es sonst auch hervorzubringen bestimmt sei] scheint mir diese Leistung die entscheidende; sie erst wäre der Kern Ihres Verzichts. Indem Sie Ihr Leid als ein namenloses, zuletzt doch nicht mehr benennbares, ertrügen, bereiteten Sie ihm die Freiheit vor, in gewissen Momenten nicht nur Leid zu sein, sondern: Fügung [– wer kann es absehen –]: Vergünstigung. Derartig eindeutige Schicksale haben ihren Gott und sind damit für immer von jenen vielfältig komplikativen Geschicken unterschieden, deren Entbehrungen nicht tief genug sind und nicht genügend verbunden, um dem Ausguss einer so groß verantwortenden Gestalt als Negativ zu dienen. R. M. Rilke |