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Rainer Maria Rilke

An Sidonie Nádherný von Borutin

Paris, 14. Oktober 1908

Ich kann nicht glauben, dass Sie noch irgendwo bange sein müssen, nutzlos und unsinnig bange; nicht im Augenblick nach Ihrem Brief, der bewegt ist von den Einsichten Ihres zu so tiefem Mut erwachsenen Herzens. Que des cieux lui sont familiers.

Vielleicht können Sie selber nicht wissen, wie sehr Ihnen Ihr Leben innerlich schon gehört; niemand weiß es vielleicht; [denn ich ahn es ja nur]. Ich ahne, dass die Konventionen und falschen Rücksichten, alle die beirrenden und neidisch bindenden Zusammenhänge Ihnen nichts mehr anhaben können: So sehr ist, über sie fort, Ihr Sein in Ihren Besitz geglitten. Und die äußere Umgebung muss nur eine Weile klar und ruhig sein, so wird sie, die Ihnen unter gewissen Hinsichten stumpf und trübe scheint, ganz von selbst anfangen, Ihre reife innere Wirklichkeit zu spiegeln. Die Gewaltsamkeit in diesen Dingen ist ein Vorurteil und ein für uns schon veraltetes. Da ich als ganz junger Mensch begann, mich aufzulehnen [nach Jahren lange missbrauchter und bis auf den letzten Tropfen ausgepresster Geduld], da tat ichs mit recht viel betontem und gekränktem Widerstand. Aber jener seltsame Umschwung fiel noch in meine Zeit, der mich beschämte, indem er mir bewies, dass die äußeren Hindernisse genau den inneren entsprachen; dass man nur in sich zu leisten hat, was man außerhalb meint durchsetzen zu können; dass nicht die Hände die Kerkertüren aufbrechen dürfen [um hernach, blutig und frei, nicht mehr zu wissen, was sie wollten]: dass das Eisen selbst Poren hat, und dass der Moment kommt, wo das Herz wie ein Duft durch sie hindurchgeht und in all seiner Herrlichkeit an den Wächtern vorbei.

Die wundervolle innere Arbeit, die sie in diesen letzten Jahren geleistet haben, wird sich eines Tages nicht mehr verbergen lassen, wird da sein und, ohne sich mit der robusten rechthaberischen Realität auseinanderzusetzen, Geltung und Überlegenheit haben, wie eine genähte Spitze, die nur einer einmal erkennend bewundern muss, damit alle sie schonen und stolz sind auf sie.

Den Moment dieser Genugtuung dürfen Sie, wo es auch sei, froh erwarten: Er bringt Ihnen von allen Seiten große Großjährigkeit. Wer dann etwas von Ihrer frei gewordenen Welt wird für sich in Anspruch nehmen dürfen, wird viel zu danken haben. – Dass es Ruth sein könnte: Eine Stunde lang hab ich mich von dieser vagen Möglichkeit verwöhnen lassen. Aber nun werd ich den Gedanken daran nicht mehr wiederdenken. Tun Sie’s auch nicht. – Denn das Kommende muss so ganz unbegrenzt und in allen seinen Verwandlungen schwebend vor Ihnen sein. Das Leben muss es immerzu bewegen und verschieben und vermehren dürfen, ohne irgendwas in der ersten Reihe zu lassen. Wählen darf man ja erst aus Allem und erst wenn man sicher ist, dass man ins Zahllose greift. Unter Übersehbarem irrt man immer; aber im Unerschöpflichen ertaucht man sich blindlings sein Eigentum. / Dies zu guter Heimkehr von

Ihrem dankbaren

RMRilke

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