Rainer Maria Rilke |
An Sidonie Nádherný von Borutin Heiligendamm, am 1. August 1913 Meine gute Sidie, Ihr Brief geht mir sehr zu Herzen, einerseits möcht ich Sie in Ihrem Schmerz bestärken, damit Sie ihn ganz erfahren in aller seiner Fülle, denn als Erfahrung einer neuen Intensität ist er eine große Lebenserfahrung und führt aufs Leben wiederum zu, wie alles, was einen gewissen Grad äußerster Stärke erreicht. Andererseits ist mir bange, wenn ich mir vorstelle, wie abgeschnürt und eingeschränkt Sie jetzt leben, furchtsam, an etwas zu stoßen, was voller Erinnerung steht [und was steht nicht voller Erinnerung?]. Sie werden erstarren, wenn Sie so dabei bleiben, Sie dürfen nicht, Liebe, Sie müssen sich bewegen, Sie müssen zu seinen Dingen zurück, müssen Hand an seine Dinge legen, die doch auch durch so vielfache Beziehung und Anziehung die Ihren sind. Sie müssen, Sidie [dies ist der Auftrag, den dieses unbegreifliche Schicksal über Sie bringt], Sie müssen sein Leben in dem Ihren fortsetzen, soweit es unvollendet war, sein Leben ist jetzt auf das Ihre übergegangen, Sie, die ihn durchaus kannten, können durchaus in seinem Sinne weitergehen: Geben Sie Ihrer Trauer diese Aufgabe, zu erforschen, was er von Ihnen erwartete, für Sie hoffte, an Sie heranwünschte. Wenn ich Sie doch überzeugen könnte, meine Freundin, dass sein Einfluss nicht aus Ihrem Dasein entgangen ist [um wie viel sicherer fühl ich meinen Vater in mir wirksam und hilfreich, seit er nicht mehr unter uns weilt], bedenken Sie: Wie vieles im täglichen Leben beirrt, trübt, macht einem die Liebe eines andern ungenau, nun ist er erst recht da, nun hat er alle Freiheit da zu sein und wir alle Freiheit, ihn zu fühlen … haben Sie nicht Ihren Vater tausendmal so wirken und teilnehmen fühlen aus dem Weltraum, wo alles, alles, Sidie, unverlierbar ist? Glauben Sie doch nicht, es könnte etwas, was zu unseren reinen Realitäten gehörte, fortfallen, aufhören: Was da so sicher auf uns wirkte, das war ja schon eine, von allen uns hier geläufigen Umständen unabhängige Wirklichkeit; gerade darum empfanden wir sie so anders, mit so unabhängigem Bedürfnis, weil sie von vornherein schon nicht mehr aufs Hiesige angelegt und determiniert war, – alle unsere wirklichen Beziehungen, alle unsere durchgehenden Erfahrungen reichen durch das Ganze, Sidie, durch Leben und Tod, wir müssen in beidem leben, in beidem innig heimisch sein, ich kenne Menschen, die schon mit derselben Liebe zutraulich dem einen wie dem anderen gegenüberstehen –, ist denn das Leben uns enträtselter, anvertrauter, als jener andere Zustand? Sind sie nicht beide namenlos über uns hinausgesetzt, unerreichbar beide, – wahr und rein sind wir nur in unserer Willigkeit zum Ganzen, Unentschiedenen, zum Großen, zum Größten. Ach, wenn ich’s Ihnen doch so sagen könnte, wie ich’s weiß, tief in Ihrer Trauer würde ein Kern von dunkler Frohheit sich ausbilden. Nehmen Sie sich vor, beherzt zu sein, seien Sie’s diesen Abend noch, spielen Sie Beethoven, der war auch im Ganzen. Ihr Rainer |