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Rainer Maria Rilke

An Nanny Wunderly-Volkart

Locarno, 7. Januar 1920

Liebe,

Picards waren fort gestern Abend, es war still, ich schlug den Koelsch auf, fand gleich ein paar Stellen von Bedeutung, – trotzdem, ich las nicht sehr weit, ich war bei Ihnen, wollte bei Ihnen sein, nichts als dies.

Ich dachte in Ihren Brief hinein und über ihn hinaus, Liebe, dies war der längste, den ich noch je bekam, ich las ihn wieder in meiner Leseecke. Sie müssen’s empfunden haben, dass ich viel von Ihnen brauchte diesmal … Aber, Liebe, ist er nicht mit Schuld gewesen, dass auch jene Nacht Ihnen kein gründlicheres Schlafen gebracht hat! Muss es Sie nicht ganz wach gemacht haben, dieses Viele noch heraufzurufen – und ich bin sicher, kalt ist es auch darüber geworden.

Ich denke viel an Ihr junges deutsches Mädchen und seine Hingerissenheit. Sie haben ihm herrlich geholfen, stark und sanft, – es ist immer wieder dies, das man können muss: gewaltig und milde sein in einer letzten Innigkeit. Ja, vorderhand lässt sich solcher Andrang nicht anders ordnen, man muss ihn auflösen über sich hinüber und doch [wird Sie’s erschrecken, wenn ich das ausspreche] in meiner Vorstellung, ja, es müsste auch dieser Anspruch möglich sein von Frau zu Frau [oder von Mann zu Mann], in Momenten natürlich nur, wo die Gegenseitigkeit sich so gewendet hat, dass er nicht nur als ein sinnlicher Eigensinn auf der einen Seite steht. Ja, ich setze sogar auf diese Beziehungen mancherlei Zuversicht. Die physiologische Forschung entdeckt immer erstaunlichere Verhältnisse, was die Verteilung des männlichen und weiblichen Elements innerhalb der Geschöpfe angeht; wie weit sind wir schon davon entfernt, zu meinen, dass es ein eindeutiges Hier und Drüben gebe. Alles ist da feinste und geheimnisvollste Dosierung, und es kann sehr leicht und nicht nur „ab-norm“ geschehen, dass zwischen zwei Mädchen jene ergänzende Affinität stattfindet, die sie selbst zu der innigsten Sinnlichkeit berechtigt. Ich vermute, dass solchen Entzückungen unendlich mehr Unschuld innewohnt als so mancher „normalen“ Beziehung, und, wenn es einmal möglich sein wird, ihnen ihre ganze Natürlichkeit und Arglosigkeit zuzugeben, so wird, vielleicht gerade von ihnen aus, die wirre, überlastete Liebesleistung zwischen Frau und Mann eigentümlich entbürdet werden. Denn dieser Liebe unüberwindlichstes Verhältnis ist doch wohl die ungeheure Betonung des einen „Ziels“, als ob alle Pfade und Weglosigkeiten des Gefühls münden müssten in dieser süßen Erreichbarkeit. Damit wird sie aus einem Geheimen zu einem Auffälligen, schon das allein bereitete ihr die ärgste Entstellung. Liebende, die ja des Gebens und Nehmens nirgends ein Ende sehen und denen unter den Händen alles namenlos wird, müssten [so stell ich mir immer vor] eigentlich, selbst voreinander, gar nicht wissen, ob unter den unzähligen Seligkeiten ihrer Vereinigung auch diese eine war, die [mit Recht oder Unrecht, beides vielleicht] für die Äußerste gilt.

Nun erraten Sie schon ein wenig, was ich mir von jenem aufrichtigen Liebesverkehr innerhalb der Geschlechter erwarte; dass er in den Einzelnen, die ihn [ganz vorübergehend vielleicht] durchmachen, eine andere Wertung vorbereite, in der nicht das Eine – dort nie vollständig Erreichbare – ganz und gar überwiegt, obwohl es da sein dürfte seiner Potenz nach –, dass aber auch in diesem von vornherein vertraulicheren Umgang sehr vieles sich auslöse und aufbrauche, was sonst nur einfach [dies gilt besonders vom Manne] das andere Geschlecht überstürzt und verschüttet, ohne es, genau genommen, zu meinen. Recht als eine Liebesschule, vom sinnlichsten Berührt- und Umfangensein bis in die zärtlich-gemeinsame Schwebe des Geistes hinein, möcht ich diese Liebeszeiten ansehen dürfen, in denen der kleine Tempel im jugendlichen Bezirk hier der Gespielen, dort der Gespielinnen steht, als ob ihre einstige gespanntere Anziehung ein klein wenig von der zärtlichen Erfahrung und Übung abhinge, die sie unter ihresgleichen, leichthin und vor-ernst, gewinnen.

Ach, Liebe, steht es doch in diesen Dingen so heillos bei uns, dass man sich nicht scheuen darf, selbst das Gewagteste vorzuschlagen, wenn’s nur den Weg zur Änderung in diesem gesetzlich geschonten Geröll anlegen mag. Und woran messen wir schließlich, ob etwas „gewagt“ sei –, an der Moral, von der doch längst offenbar ist, dass sie gerade ins Liebesgebiet so verwirrend hinübergreife und den Grad der Erscheinungen fälsche, die außerhalb ihres Zusammenhangs inkommensurabel sind. Dass wir uns irgendwann moralisch gehemmt empfinden, darf uns am Ende nur noch misstrauisch machen gegen das Hemmnis selbst, nicht gegen unsere Impulse. Aus dem Gefühl des Ganzen, aus der immer wieder ahnbaren Einheit unseres eigenen Lebens und aus jenen unbeschreiblichen Momenten, da der Tod in uns kein Veracht mehr ist, – mag sich für jeden Einzelnen der Gerichtshof bilden, dem er verantwortlich bleibt. Ach, Liebe, wie ist das alles im Werden –, und wie aufgehalten ist es überall, wie aufgeschoben, – und doch sollen wir da sein und lieben und sterben aus diesem kleinen Stehgreif unseres vorläufigen Herzens, das im Stich gelassen wird bei seinen seligsten Aufgaben. Immer wieder wäre der ganze Malte zu schreiben, auf allen Ebenen dieser Einsicht errichtet sich wieder sein Leben und sein Untergang. Bin ich weiter, als er war? Nein, ich bin’s nicht, ich schleppe mich wie die anderen, ich leide an meiner Verlassenheit, und manchmal scheint mir eine flüchtige Zärtlichkeit, selbst die zufälligste, mehr und ersehnlicher als meine ganze unendliche Zukunft im Weltraum.

Nike, dies soll noch fort, gleich lauf ich in den Regen hinaus, – Sie haben keine Idee, wie langweilig der ist, ein Regen, ganz ohne Einfälle. Es regnet wie einer die Zeitung liest, so immer weiter, lauter Lügen und dann noch die Annoncen dazu, die Todesfälle und die Heiratsinserate und die verlorenen Hunde und Regenschirme … so regnet es. Nun können Sie sich’s denken.

R

Briefe