Rainer Maria Rilke |
1 Du weißt von meinen Plänen zu einer Rede über die Gegenliebe Gottes. Eine Notiz, die ich kürzlich irgendwo las, brachte mir das wunderbare Verhältnis in Erinnerung, das Spinoza muss aufgestellt haben durch seine Einsicht in die Unabhängigkeit des Gottliebenden von jeder Erwiderung Gottes: so dass ich ja wohl gar nicht weiterdenken dürfte, als über diesen Weg. 2 Es widerstrebt mir [ich will es gleich sagen], die Liebe zu Gott für ein besonders abgegrenztes Handeln des menschlichen Herzens zu halten; ich vermute vielmehr, dass dieses Herz jedes Mal dort, wo es sich selbst überrascht, über den bisher äußersten Kreis seiner Leistung nach allen Seiten einen neuen weiteren Kreis hinaustreibend, – dass dieses Herz bei jedem seiner Fortschritte seinen Gegenstand durchbricht oder einfach verliert und dann unendlich hinausliebt. Wer sich einen Begriff machen wollte von den Liebeseinkünften Gottes, würde eine erschreckend geringe Summe aufstellen, wenn er davon absähe, diese schlechthin ausströmenden, gleichsam herrenlosen Gefühlswerte hinzuzuschlagen. Denn nicht nur dass in unseren Tagen die unmittelbare Gotteszuwendung sich verringert hat, es mochte von ihr immer alles das abzuziehen sein, was die menschliche Anstrengung zu Gott an Trübem und Fühllosem in das Bett des Gebets mit hinüberreißt. Man sehe in irgendeinem Heiligenleben nach [etwa bei der seligen Angela von Foligno], welcher Abhärtung es bedarf, um von der Süßigkeit des eigenen Wesens nicht verführt zu sein und von seiner Herbheit nicht zerrissen. Welche dürftige und immer-übende Mühe dazu gehört, die Leitung zu Gott dort anzuschließen, wo die Quellen des Herzens ausspringen, und wie viel daran liegt, diesen Anschluss so rasch zu erreichen, dass man unerschöpft und unabgestanden in ihn hinüberstürzt. .
Es wird besser sein, das Wort Glauben so, wie es sich in uns verbildet hat,
zunächst nicht anzuwenden, um die arglose Gottesnähe nicht von Anfang an zu
erschrecken. Dieses Wort hat einen Nebensinn von Zwang, von Anstrengung
angenommen, dass man fast nur noch die langen Mühen einer Bekehrung darin
erkennt und vergisst, dass Glaube nur eine leise Färbung der Liebe ist auf
derjenigen Seite, mit der sie sich dem Unsichtbaren zukehrt. Ich begreife
immer weniger, was eigentlich uns in der Liebe zu Gott aufhält und irre
macht. Eine Zeit lang konnte man denken, dass es die Unsichtbarkeit sei, –
aber gehen nicht seither alle unsere Erfahrungen dahin, dass die Gegenwart
eines geliebten Gegenstands zwar für den Beginn der Liebe hilfreich ist,
ihrem späteren Großsein aber Kummer und Abbruch tut? Und stimmen nicht mit
diesen Erfahrungen die Schicksale aller Liebenden überein, wie man sie uns
überliefert hat? Ist es möglich, in den Briefen der großen Verlassenen
länger den unbewussten Jubel zu übersehen, der im Klang ihrer Klagen ist,
sooft ihnen zum Bewusstsein kommt, dass ihr Gefühl auch den Geliebten nicht
mehr vor sich hat, sondern nur seine eigne schwindelnde, seine selige Bahn?
Wie man bei der Erziehung eines Pferdes gelegentlich wohl noch zum Zucker
greift, solange, bis dieser ausdrückliche Anlass nicht mehr nötig ist, um
die reine Leistung hervorzurufen, so wird uns lange noch, uns schwer
Lernenden, ein liebes Gesicht gezeigt; aber die eigentliche Handlung unserer
Liebe beginnt erst, wenn wir dieser Aufforderung nicht mehr bedürfen, um mit
dem ganzen Herzen in eine Liebe auszubrechen, der der Wink einer Richtung
genügt. Oder es müsste unsere Liebe das Element nicht sein, wenn sie nicht
unter den Elementen des Raums im bloßen Hinstürzen zu sich käme. Wäre sie
ein verwöhnter Hunger, so entstände sie erst über dem Gericht. Aber sie ist
der Hunger derer, die man niemals gesättigt hat, ein Hunger so
eingefleischt, dass er nicht mehr nach dem Brote schreit, sondern schreit
vom Brot.
1 Brief an Lou Andreas-Salomé,
2. Dezember 1913 |