1
Ein Bund trägt ja doch nicht den Stempel
der vollsten herdenartigen Gleichheit seiner Glieder. Im Gegenteil: Je
verschiedener die einzelnen Bestandteile sind, desto volltönender und
reicher wird der Erfolg ihres Zusammenklingens sein, wenn sie nur alle auf einen Grundton gestimmt sind. – Man darf Bund nicht mit Schule verwechseln. Während das Bestreben der Letzteren ist, durch gewisse starre
Normen die Bahn des Schaffenden zu engen, ermöglicht der Bund jedem, seiner
Eigenart gemäß, aus sich herauszutreten, unbekümmert um kleinliche
Interessen und Vorteile.
2
Durch Dich will ich die Welt sehen; denn dann seh ich
nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich, Dich!
3
Florenz scheint mir jetzt als eine Art
Vorbildung und Vorbereitung für Moskau, und ich bin dankbar dafür, dass ich Fra Angelico
[Maler der italienischen Frührenaissance] habe sehen dürfen vor
den Bettlern und Betern der iberischen Madonna
[russisch-orthodoxe Ikone der Jungfrau Maria], die
alle mit der gleichen knieenden Kraft ihren Gott erschaffen, immer und immer
wieder, ihn mit ihrem Leid und mit ihrer Freude [kleinen, unbestimmten
Gefühlen] beschenken und bezeichnen, ihn morgens heben mit dem Augenlid und
ihn abends ruhig loslassen, wenn die Ermüdung ihre Gebete wie
Rosenkranzschnüre zerreißt. Im Grunde sucht man in jedem Neuem [Land oder
Menschen oder Ding] nur einen Ausdruck, der irgendeinem persönlichen
Geständnis zu größerer Macht und Mündigkeit verhilft. Alle Dinge sind ja
dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn. Und sie leiden
nicht dadurch, denn während sie uns immer klarer aussprechen, senkt unsere
Seele sich in demselben Maße über sie.
4
Weißt du aber, was mir die Hauptsache dabei war,
lieber Helmuth: Dass ich wieder mal sah, dass die meisten Menschen die Dinge in der
Hand halten, um damit irgendeine Dummheit zu machen [wie zum Beispiel sich
zu kitzeln mit Pfauenfedern], statt sich jedes Ding
gut anzusehen und statt jedes um die Schönheit zu fragen, die es besitzt. So
kommt es, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, wie schön die Welt ist
und wie viel Pracht in den kleinsten Dingen, in irgendeiner Blume, einem
Stein, einer Baumrinde oder einem Birkenblatt sich offenbart. Die
erwachsenen Menschen, die Geschäfte und Sorgen haben und sich mit lauter
Kleinigkeiten quälen, verlieren allmählich ganz den Blick für diese
Reichtümer, welche die Kinder, wenn sie aufmerksam und gut sind, bald
bemerken und mit dem ganzen Herzen lieben. Und doch wäre es das Schönste,
wenn alle Menschen in dieser Beziehung immer wie aufmerksame und gute Kinder
bleiben wollten, einfältig und fromm im Gefühl, und wenn sie die Fähigkeit
nicht verlieren würden, sich an einem Birkenblatt oder an der Feder eines
Pfauen oder an der Schwinge einer Nebelkrähe so innig zu freuen wie an einem
großen Gebirge oder einem prächtigen Palast. Das Kleine ist ebenso wenig
klein, als das Große – groß ist. Es geht eine große und ewige Schönheit
durch die ganze Welt, und diese ist gerecht über den kleinen und großen
Dingen verstreut; denn es gibt im Wichtigen und Wesentlichen keine
Ungerechtigkeit auf der ganzen Erde.
5
Ist Ihre Liebe und Freundschaft so misstrauisch,
dass sie immerfort sehen und greifen will, was sie besitzt? Sie müssen
fortwährend Enttäuschungen erfahren, wenn Sie erwarten, das alte Verhältnis
zu finden, aber warum freuen Sie sich nicht auf das Neue, das beginnen wird,
wenn Clara Westhoffs neue Einsamkeit einmal die Tore auftut, um Sie zu
empfangen? Auch ich stehe still und voll tiefen Vertrauens vor
den
Toren dieser Einsamkeit, weil ich für die höchste Aufgabe einer Verbindung
zweier Menschen diese halte: dass einer dem andern seine Einsamkeit bewache.
Denn wenn das Wesen der Gleichgültigkeit und der Menge darin besteht, keine
Einsamkeit anzuerkennen, so ist Liebe und Freundschaft dazu da, fortwährend
Gelegenheit zur Einsamkeit zu geben. Und nur das sind die wirklichen
Gemeinsamkeiten, die rhythmisch tiefe Vereinsamungen unterbrechen … Denken
Sie daran, als Sie Clara Westhoff kennen lernten: da wartete Ihre Liebe
geduldig auf ein aufgehendes Tor, dieselbe Liebe, die jetzt ungeduldig an
die Wände pocht, hinter denen die Dinge sich vollziehen, die wir nicht
kennen, die ich ebenso wenig kenne wie Sie, – nur dass ich das Vertrauen
habe, dass sie mich tief und verwandt berühren werden, wenn sie sich mir
einmal offenbaren. Und kann Ihre Liebe kein ähnliches Vertrauen fassen? Aus
diesem Vertrauen allein werden ihr Freuden kommen, von denen sie leben wird,
ohne zu hungern.
6
Man soll arbeiten und Geduld haben. Nicht
rechts, nicht links schauen. Das ganze Leben in diesen Kreis hineinziehen, nichts
haben außerhalb dieses Lebens. Rodin hat das so gemacht. Man
muss das andere opfern. Der unerquickliche Hausstand Tolstois, die
Unbehaglichkeit in den Zimmern Rodins: Das deutet alles auf dasselbe hin:
Dass man sich entscheiden muss, entweder das oder jenes. Entweder Glück oder
Kunst. Und das ist ja alles so klar, so klar. Die großen Menschen alle haben
ihr Leben zuwachsen lassen wie einen alten Weg und haben alles in ihre Kunst
getragen. Ihr Leben ist verkümmert wie ein Organ, das sie nicht mehr
brauchen.
Siehst du, Rodin hat nichts gelebt, was nicht in
seinem Werke ist. So wuchs es um ihn. So verlor er sich nicht, selbst in den
Jahren, da Geldnot ihn zu unwürdiger Arbeit zwang, verlor er sich nicht,
weil nicht Plan blieb, was er erlebte, weil er abends es gleich
verwirklichte, was er bei Tage gewollt hat. So wurde immer alles wirklich.
Das ist die Hauptsache, dass man nicht beim Träumen, beim Vornehmen, beim
In-Stimmung-Sein bleibt, sondern immer mit Gewalt alles in Dinge umsetzt.
Wie Rodin es getan hat. Warum ist er durchgedrungen? Nicht, weil er Beifall
gefunden hat. Seiner Freunde sind wenige, und er steht, wie er sagt, auf dem
Index. Aber sein Werk war da, eine enorme, grandiose Wirklichkeit, über die
man nicht weg kann. Damit hat er sich Raum und Recht erzwungen. Man kann
sich einen Mann denken, der das alles in sich gefühlt, gewollt hatte und auf
bessere Zeiten gewartet hätte, um es zu machen. Wer würde seiner achten; er
wäre ein alternder Narr, der nichts mehr zu hoffen hätte. Aber machen,
machen heißt es. Und ist erst einmal etwas da, sind zehn, zwölf Sachen da,
sind 60, 70 kleine Akte um einen, die man alle bald aus dem, bald jenem
Drang heraus gemacht hat, dann hat man schon ein Stück Land gewonnen, auf
dem man aufrecht stehen kann. Dann verliert man sich nicht mehr. Wenn Rodin
da unter seinen Dingen umhergeht, da fühlt man, wie ihm von ihnen immerfort
Jugend, Sicherheit und neue Arbeit zuströmt. Er kann nicht irre werden. Sein
Werk steht wie ein großer Engel neben ihm und schützt ihn.
7
Ich sehe immer mehr ein, dass für meine Art
nichts schwerer ist und gefährlicher, als mit dem Schreiben Geld verdienen
wollen. Ich kann mich so gar nicht zum Schreiben zwingen; und allein schon
das Bewusstsein, dass zwischen meinem Schreiben und des Tages Nahrung und
Notdurft eine Beziehung besteht, genügt, mir die Arbeit unmöglich zu machen.
Ich muss auf das Klingen warten in der Stille, und ich weiß, wenn ich das
Klingen dränge, dann kommt es erst recht nicht. [Es ist so selten
gekommen in den letzten zwei Jahren.] Manchmal ist es da, dann bin ich der
Herr meiner Tiefen, die sich auftun, strahlend und schön und schimmernd im
Dunkel; aber ich habe nicht den Zauberspruch getan, Gott tut ihn, wenn es
Zeit ist, und mir gebührt nur, geduldig zu sein und zu warten und meine
Tiefen gläubig zu ertragen, die, wenn sie verschlossen sind, wie ein
schwerer Stein sind viele Tage des Jahres.
8
O wie ich daran glaube, an das Leben. Nicht das,
das die Zeit ausmacht, jenes andere Leben, das Leben der kleinen Dinge, das
Leben der Tiere und der großen Ebenen. Dieses Leben, das durch die
Jahrtausende dauert, scheinbar ohne Teilnahme, und doch im Gleichgewicht
seiner Kräfte voll Bewegung und Wachstum und Wärme. Darum lasten die Städte
so auf mir. Darum liebe ich es, barfuß weite Wege zu tun, um kein Sandkorn
zu versäumen und meinem Körper in vielen Formen die ganze Welt zu geben zum
Gefühl, zum Ereignis, zur Verwandtschaft. Darum lebe ich, wo es geht, von
Gemüse, um dem einfachen, durch nichts Fremdes gesteigerten
Lebensbewusstsein nahe zu sein; darum geht kein Wein in mich ein: weil ich
will, dass nur meine Säfte reden und rauschen sollen und Seligkeit haben
sollen, wie in Kindern und Tieren, tief aus sich selbst! … Und darum will
ich auch allen Hochmut weit von mir abtun, mich nicht heben über das
allergeringste Tier und mich nicht herrlicher halten als einen Stein. Aber
sein, was ich bin, leben, was mir zu leben gesetzt war, klingen wollen, was
keiner sonst klingen kann, die Blüten bringen, die meinem Herzen befohlen
sind. Das will ich – und das kann
doch nicht Überhebung sein.
9
Ich weiß, dass ich mein Leben nicht
herausschneiden kann aus den Schicksalen, mit denen es verwachsen ist; aber
ich muss die Kraft finden, es ganz, wie es ist, mit allem, in eine Ruhe
hineinzuheben, in eine Einsamkeit, in die Stille tiefer Arbeitstage: Nur
dort wird mich alles finden, was Du mir verheißen hast.
10
Die Wirklichkeit macht alles immer einfacher,
und jede natürliche Erfüllung erfüllt nur das Wichtige.
11
Absolut betrachtet, ohne Rücksichtnahme auf das
minderwertige Gespräch, das die ganze Welt ausfüllt, scheint mir jetzt auch
das trefflichste Gespräch wie eine Ausschweifung. Ich dachte es neulich, als
ich mich hier am Abend verleiten ließ, einiges Wichtige zu sagen, fühlte es
nach den erschöpfenden Gesprächen mit N. am Anfang meines hiesigen
Aufenthaltes. Welcher bittere Geschmack, welches Ausgabegefühl, welche
Morgen-nach-einem-Gelage-Stimmung bleibt da zurück! Und wie schuldig fühlt
man sich! Früher glaubte ich immer, es käme aus einem Bedauern, sich an
nicht ganz Feine, Reife weggegeben zu haben; aber nein, es kommt einfach
daher, dass Ausgeben Sünde ist, Musik ist, Hingabe ist. Im Grunde muss man
sich vor seinen besten Worten zuschließen und in die Einsamkeit gehen. Denn
das Wort muss Mensch werden. Das ist das Geheimnis der Welt!
12
Rein sind alle Gefühle, die Sie zusammenfassen
und aufheben; unrein ist das Gefühl, das nur
eine Seite Ihres Wesens erfasst und Sie so verzerrt. Alles, was mehr
aus Ihnen macht, als Sie bisher in Ihren besten Stunden waren, ist recht.
Jede Steigerung ist gut, wenn sie in Ihrem
ganzen Blute ist, wenn sie nicht Rausch ist, nicht Trübe, sondern
Freude, der man auf den Grund sieht. Im Übrigen lassen Sie sich das Leben
geschehen. Glauben Sie mir: Das Leben hat recht, auf alle Fälle.
13
Möge das Leben Ihnen aufgehen, Tür um Tür; mögen
Sie in sich die Fähigkeit finden, ihm
zu vertrauen, und den Mut, gerade dem Schweren das meiste Vertrauen zu
geben. Jungen Menschen möchte ich
immer nur dieses eine sagen [es ist fast das Einzige, was ich bis jetzt
sicher weiß] – dass wir uns immer an das
Schwere halten müssen; das ist unser Teil. Wir müssen so tief ins
Leben hineingehen, dass es auf uns liegt und Last
ist: Nicht Lust soll um
uns sein, sondern Leben.
Wenn für viele das Leben auf einmal leichter wird, leichtsinniger und
froher, so ist es nur, weil sie aufgehört haben, es ernst zu nehmen, es in
Wirklichkeit zu tragen und mit ihrem eigensten Wesen zu fühlen und zu
erfüllen. Das ist kein Fortschritt im Sinne des Lebens. Das ist eine
Absage aller seiner Weiten und Möglichkeiten. Was von uns verlangt wird,
ist, dass wir das Schwere lieben und
mit dem Schweren umgehen lernen. Im Schweren sind die freundlichen Kräfte,
die Hände, die an uns arbeiten. Mitten im Schweren sollen wir unsere Freuden
haben, unser Glück, unsere Träume; da, vor der Tiefe dieses Hintergrunds,
heben sie sich ab, da sehen wir erst, wie schön sie sind. Und nur im Dunkel
der Schwere hat unser kostbares Lächeln einen Sinn; da leuchtet es erst mit
seinem tiefen, träumenden Licht, und in der Helligkeit, die es für einen
Augenblick verbreitet, sehen wir die Wunder und Schätze, von denen wir
umgeben sind.
14
Sind wir denn im Leichten froh, sind wir nicht
fast verlegen im Leichten? Unser Herz ist tief, aber wenn wir nicht
hineingedrückt werden, gehen wir nie bis auf den Grund. Und doch, man muss
auf dem Grund gewesen sein. Darum handelt sich's.
15
Sich auf Gott richten, kann keine andere Bewegung
bedeuten, als sich auf die Erde richten. Das Ziel der ganzen menschlichen
Entwicklung ist, Gott und die Erde in demselben Gedanken denken zu können.
Die Liebe zum Leben und die Liebe zu Gott muss zusammenfallen, anstatt, wie
jetzt, verschiedene Tempel auf verschiedenen Anhöhen zu haben; man kann Gott
nur anbeten, indem man das Leben zur Vollkommenheit lebt. Ihm immer höhere
Formen zu geben, einen immer reicheren Zusammenhang zwischen ihm und dem
scheinbar Unbelebten herbeizuführen, dies heißt Gott schaffen; mit anderen
Worten: Gott ins Leben hinabsinken oder das Leben zu Gott emporblühen zu
lassen.
16
Und nun steht Ihre Gestalt geradeso vor mir in
der Einsamkeit [und nun, bitte, zürnen Sie nicht], die ihr so gut ansteht.
Betete ich für Sie, so betete ich, dass Sie sie nicht durchbrächen, diese
Einsamkeit, nicht jetzt, nicht ungeduldig, nicht um jeden Preis. Sie ist
schwer, gewiss; aber sie scheint Ihnen schwerer, weil Sie sie für einen
leeren Raum halten, während sie da sein muss, als Raum für das Leuchten, das
von Ihrer Gestalt ausgeht.
17
Lieber, lieber Herr Rilke, haben wir's nicht
alle gesagt, eines Abends: Ich will anders beten? Und ist einer unter uns,
der gewusst hat wie? Waren wir nicht alle ratlos und versuchten's auf die
und jene Art und konnten's auf keine? Und schließlich gaben wir's auf: als
unnütz, wie wir sagten; als zu schwer, wie wir hätten eingestehen müssen,
wenn wir damals schon gelernt gehabt hätten, ein klein wenig aufrichtiger zu
sein. Aber später, als wir's lange nicht mehr taten, da kam die Stunde, da
wir uns irgendwie beschäftigt fanden, vertieft, verloren in etwas, um etwas
versammelt: Wissen Sie's noch? Und plötzlich war Gott da, eine Sekunde lang.
Wir zitterten. Warum war er gekommen? Wer hatte ihn gerufen? Was war
geschehen? – Wir hatten gebetet, ohne es zu wissen. Wir hatten anders
gebetet.
18
Wenn uns etwas fortgenommen wird, womit wir tief
und wunderbar zusammenhängen, so ist viel von uns selber fortgenommen. Gott
aber will, dass wir uns wiederfinden, reicher um alles Verlorene und
vermehrt um jeden unendlichen Schmerz.
19
Ich habe nie begriffen, wie eine wirkliche, elementare,
durch und durch wahre Liebe unerwidert sein kann; da sie doch nichts anderes
ist, als der dringende selige Anspruch an einen Andern, schön, reich, groß,
innig unvergesslich zu sein; die an ihn heranflutende Verpflichtung, etwas
zu werden –. Und sagen Sie, wer dürfte das abweisen, wenn es auf ihn sich
richtet, ihn erwählt aus den Millionen, ihn findet, der vielleicht in einem
Schicksal verborgen oder mitten im Ruhm unnahbar war? […] Fassen, nehmen, in
sich halten kann ja keiner solche Liebe; sie ist so vollends zum Weitergeben
bestimmt über jeden hinaus; sie braucht den Geliebten nur, damit er ihr den
äußersten Schwung gäbe für ihren weiteren Kreislauf zwischen den Sternen.
20
Sie wissen ja, dass das Unerbittliche da sein muss um
des Erbetenen willen, und dass die Schönheit dünn und gering wird, wenn man
sie nur im Gefälligen sucht; dort ruht sie zuweilen; aber sie wohnt und
wacht innen in jedem Ding und schließt sich ein und tritt nur für den
hervor, der sie überall glaubt und nirgends weitergeht, eh er sie beharrlich
beschwört.
21
Ich bin über den Bedingungen meiner Arbeit einseitig
geworden, sodass ich, wenn Sie mir nicht sehr helfen, nicht verstehe, welche
Aufgabe die viele Geselligkeit in Ihrem Leben hat, in der Sie sich ermüden.
Ich komme manchmal auf den Gedanken, dass sie mit ihrem zerstreuten Geräusch
etwas übertönen soll. Dies quält mich. Ich bin so sehr für die starken
Stimmen, so sehr dafür, dass man sie höre, höre und ertrage. Es ist eine
solche Auserwählung und Gnade darin, dass sich eine erhebt: Dann soll man
sie aushalten. Selbst wenn sie Unmögliches verlangt, selbst wenn man an
ihrer Stärke allein schon zu sterben meint; dann soll man sie nicht als
traurig auslegen, sondern gar nicht urteilen, ob Trostloses oder Seliges
damit auferlegt ist: Nur hinhalten soll man sich mit des Herzens ganzem
Gehör.
22
So sprach ich von Wünschen, von den unerfüllbaren: Was
für eine Kraft sie sind, wenn man sie wachsen lässt und sie ausnutzt als
reine Kraft wie strömendes und stürzendes Wasser. Und mir wurde recht
deutlich, wie wenig Wunsch und Erfüllung aneinander gebunden sind. So wenig,
dass es für uns fast keinen Sinn hat, uns mit den erfüllbaren einzulassen;
die sind wie Hunger und Müdigkeit; sie sind vergessen in der Befriedigung.
Aber die anderen sind wie Engel, sie steigen im Raum und heben uns mit.
23
Vielleicht kann niemand, als wer hingeht, den Anderen
so unbedingte Gelegenheit zu Fortschritt geben; denn alles, was wir als
Bleibende oder nur ein wenig wieder Zurücktretende an Menschen heraufrufen
oder wirken, tritt so sehr unter dem Einfluss unserer Willkür, unserer
Neigung oder Bemühung an ihnen auf, dass es nur halb Gegenstand, halb
Spiegelbild unserer Anforderung oder Hoffnung wird –: Fast nur hier, durch
einen nahen Menschen, der stirbt, geschieht etwas an uns, was völlig nicht
beabsichtigt ist; etwas wird von uns verlangt, was der, der es uns
auferlegen muss, weder voraussieht noch beurteilt, – fast nur hier ist ein
im äußersten Sinn Unparteiischer der Anfordernde, ich weiß nicht, wo sonst
ein Mensch gegen den andern gerecht sein, einer vom anderen so großartig
verpflichtet und freigegeben werden kann wie in solcher Stunde.
Sie haben sie erlebt, ohne sich nach Erleichterungen
umzusehen, darum hat das Schwere Ihnen hoch im Klaren seine ausgebreiteten
Flügel gezeigt; darum hat alles zu einem Ganzen, zu Verständnis und Liebe
geführt, zu Dingen, die nicht aufhören. Darum ist die lange Leistung jenes
Abschieds in Ihnen mit einem Anfang verschwistert. Wie freu ich mich im
Gedanken, dass Sie dazu jetzt Natur um sich haben, Landschaft, Seiendes,
Weites, Berufendes, das sich nicht in Teilnehmung verliert, sondern Sie
selber anleitet, mit dem neuen dunkleren und größeren Herzen ans
Schicksalslose Anschluss zu suchen.
24
Das Leben ist Veränderung, das Gute ist eine und das
Schlechte auch, und darum hat der Recht, der alles als etwas nimmt, was
nicht wiederkommt, mag er dann vergessen oder nicht, wenn er nur eine Weile
ganz herum war, der Schauplatz, die Atmosphäre, die Welt dessen, was
geschah, wenn es nur in ihm geschah, mitten in ihm, Gutes wie Arges
–, dann bleibt ihm eigentlich nichts zu befürchten, denn dann ist auch immer
ein Nächstes da und jedes Mal ein Bedeutendes: So sehr liegt es an unserer
Teilnehmung, die Dinge ins Wesenhafte zu steigern, wenn sie unsere Meinung
fühlen, nehmen sie sich zusammen und bleiben nicht zurück und sind alles,
was sie können; und in jedem Neuen ist dann das Alte ganz, nur anders und um
vieles vermehrt.
25
Dein Wesen war so recht die Tür, durch die ich
zuerst ins Freie kam.
26
Ich sage mir oft, dass ich nur durch Dich mit
dem Menschlichen zusammenhänge, in Dir ist es mir zugekehrt, ahnt mich,
atmet mich an.
27
Denken Sie’s aus bis auf den letzten Grund, dass der
Tod nur des Lebens tiefste Erfahrung sei, dass wir, wenn wir sie nach
Kräften zu unserer Erfahrung machen, ins Leben inniger uns hineinfinden
[statt uns davon zu entfernen], so kann dieses Grausame nicht das
Gegenteil sein, nicht das Fremde, nur das, das sich nicht zu erkennen gibt,
obwohl uns gehörig, unendlich.
28
Auch dies ist ja eine von den wunderlichen
Begrenzungen innerhalb der menschlichen Näherungen, dass es einem versagt
scheint oder wenigstens die Kraft übersteigt, mit jemandem, mit dem man im
Größesten sich zu benehmen wusste, eines Tages Halbes, Bedingtes, Geringeres
zu erleben.
29
Die Realität jeder Freude ist unbeschreiblich in der
Welt, nur in der Freude geht noch die Schöpfung vor sich [das Glück dagegen
ist nur eine versprechliche und deutsame Konstellation schon vorhandener
Dinge], die Freude aber ist eine wunderbare Vermehrung des schon
Bestehenden, ein purer Zuwachs aus dem Nichts heraus. Wie schwach muss im
Grunde doch das Glück uns beschäftigen, da es uns sofort Zeit lässt, an
seine Dauer zu denken und darum besorgt zu sein: Die Freude ist ein Moment,
unverpflichtet, von vornherein zeitlos, nicht zu halten, aber auch nicht
eigentlich wieder zu verlieren, indem unter ihrer Erschütterung unser Wesen
sich gewissermaßen chemisch verändert, nicht nur, wie es im Glück der Fall
sein mag, in einer neuen Mischung sich selber kostet und genießt.
Erfüllt von dieser Erfahrung, hab ich mich ziemlich vor Enttäuschung
gesichert, da denn das Größere immer im Recht bleibt, unerwartet zu
sein, zu kommen, zu gehen, und ich ihm lange nicht mehr zumute, als
Konsequenz aus etwas vorigem Großen hervorzugehen. Es steht für mich nicht
in der Reihe, es tritt gleichsam immer gerade aus der unkenntlichen und
unabsehbaren Tiefe hervor, und drum höre ich nie auf, es als Möglichkeit zu
fühlen, auch da, wo es ausbleibt.
30
Von Liebe sprechen, heißt sprechen von Härte.
31
Wenn ich sah, dass sich die andern zu Gott anstrengten,
so begriff ich das nicht; obwohl ich ihn vielleicht weniger hatte als sie,
so war doch niemand im Weg zwischen Ihm und mir, und ich war leicht zu
seinem Herzen. Ist’s doch an ihm, uns zu haben, unser Teil ist fast
nur, dass er uns greifen könne. Im heilen Wesen der Seele gibt es keine Mühe
zu Gott, die Liebe zu ihm ist die still überwiegende Richtung unserer Natur.
32
Ich sehnte mich, wenn ich’s bedenke, nach einer
Wirklichkeit, vor der das monströs Tägliche, in das ich eingeschlossen war
[die Militärerziehung, Anm.], klein, verlegen, gedemütigt dastehen
sollte, übertroffen, ja zaghaft zugebend, dass es nicht sei. Von Zeit zu
Zeit schien es mir, dass ein solcher Eingriff, streng genommen, nur von Gott
zu erwarten sei, und dann fühlte ich mich mit ihm im Vertrauen und hatte
Unterredungen mit ihm, in denen ich es gewiss an Vorschlägen zum Untergang
der Militärschule nicht fehlen ließ. Wenn man aber mit Gott warm wurde in
diesem dringenden Verkehr, so geschah das Seltsamste, Unbegreiflichste: Man
konnte ihn nicht gewinnen für irgendeine Vernichtung oder Erniedrigung der
umgebenden Umstände, denn sprach man nur mit ihm, so war schon gar keine
Militäranstalt mehr da. Wie man manchmal im späteren Leben in einer starken
geistigen Zuwendung den eigenen Körper nicht fühlt, sondern nur von einem
innersten Daseinspunkte aus unerschöpflich hinaus und hinüberwirkt, so hatte
die Not des Knaben durch ihren instinktmäßigen Anschluss ans Größte ihre
eigenen Beweggründe überschritten, war draußen, gleichsam
im Raume, zu einer reinen, unbedingten Beziehung geworden, zu einer
unabhängigen, herrlichen Erfahrung der Seele.
33
Das Leben wird nicht in der „Bildung“ in Besitz
genommen, sondern unmittelbar an jeder Stelle, wo Hingabe ist, wo Ehrfurcht
ist, ein freudiger Entschluss und ein großmütiges Herz.
34
Denn ob es gleich keiner laut zugeben mag,
Tröstungen täten not, die großen unerschöpflichen Tröstungen, deren
Möglichkeit ich oft auf dem Grunde meines Herzens empfunden habe, fast
erschrocken, sie, die grenzenlosen, in so eingeschränktem Gefäße zu
enthalten. Es ist ja sicher, dass der göttlichste Trost im Menschlichen
selbst enthalten ist, mit dem Troste eines Gottes wüssten wir wenig
anzufangen; sondern es müsste nur unser Auge eine Spur schauender, unser Ohr
empfangender sein, der Geschmack einer Frucht müsste uns vollständiger
eingehen, wir müssten mehr Geruch aushalten und im Berühren und
Angerührtsein geistesgegenwärtiger und weniger vergesslich sein –: um sofort
aus unseren nächsten Erfahrungen Tröstungen aufzunehmen, die überzeugender,
überwiegender, wahrer wären als alles Leid, das uns je erschüttern kann.
35
Die Liebe nimmt nicht Rücksicht auf unsere
Einteilungen, sondern reißt uns, zitternd wie wir sind, in ein endloses
Bewusstsein des Ganzen hinein. Die Liebenden leben nicht aus dem abgetrennt
Hiesigen; als ob nie eine Teilung vorgenommen worden wäre, greifen sie den
ungeheueren Besitzstand ihrer Herzen an, von ihnen kann man sagen, dass
ihnen Gott wahrhaft wird und dass der Tod ihnen nicht schadet: Denn sie sind
voller Tod, indem sie voller Leben sind.
36
Es wundert mich, Ilse, dass Sie nun ein
Bevorstehendes so geradezu „Unglück“ nennen: Was es auch an
„Missverständnissen und Zerwürfnissen“ mit sich bringt, hat es nicht
wenigstens das Recht, ohne so vorgegebene Namen zu kommen? Worte sind
Zaubersprüche und Namen sind es erst recht.
37
Sicherheit außer der im Gedicht, im Bild, in der
Gleichung, im Gebäude und in der Musik, ist vielleicht nur um den Preis der bestimmtesten Einschränkung überhaupt zu erreichen, indem man in einer
wohlüberlegten oder erfahrenen Weltauswahl sich einfriedigt und vergnügt, in
einer Umgebung von Bekanntheit und Bedeutung, in der dann eine unmittelbare
Selbstanwendung nützlich und möglich wird. Aber wie könnten wir das wollen?
Unsere Sicherheit muss irgendwie ein Verhältnis zum Ganzen werden, zu einer
Vollzähligkeit; Sichersein heißt für uns die Unschuld des Unrechts gewahren
und die Gestalthaftigkeit des Leidens zugeben; heißt Namen ablehnen, um
dahinter die einzigen Bildungen und Verbindungen des Schicksals, wie Gäste,
zu ehrwürdigen; heißt Nahrung und Entbehrung, bis weit ins Geistige
hinein, unbeirrt bleiben, wie zu Brot und Stein –, heißt nichts
verdächtigen, hinausdrängen, nichts für das Andere halten, heißt über allen
Begriff des Eigentums hinaus in Aneignungen leben, nicht in besitzenden, aber
in gleichnishaften –, und schließlich, ob es gleich bürgerlich nicht
zutrifft, sich über diese gewagte Sicherheit zu verständigen: Sie ist ja
doch die letzte grundgiebige Gemeinsamkeit unserer Aufstiege und Untergänge.
Die Unsicherheit ganz groß nehmen –: in einer unendlichen wird auch die
Sicherheit unendlich.
38
Es liegt in der Natur jeder endgültigen Liebe,
dass sie früher oder später den Geliebten nur noch im Unendlichen erreichen
mag.
39
Kein Mädchen Ihrer Art konnte doch eine Ehe eingehen
für immer und sozusagen als Probe auf den eigenen Wert! Wir wissen doch alle
längst, dass von einem Menschen zum anderen nur reine ehrliche und freudige
Versuche möglich sind und dass selbst dem wunderbarsten Gelingen nicht ein
Zeitmaß innewohnt, überhaupt kein Maß. Ja und wissen wir nicht auch, gute
Freundin, dass die Fähigkeiten eines Lebens nur innerhalb seiner selbst sich
prüfen lassen, sodass jedes Auf-sich-selber-zurückgeworfen-Sein ein
Natürliches sein muss, ein Nötiges? – Irgendwo überflüssig werden heißt nur
sich selber nötig haben: Wenn von Ihnen irgendwie ein Ende verlangt wird, so
heißt das doch auch den Auftrag zu einem neuen Anfang bekommen, der ist
immer möglich, welcher Mensch sollte den ablehnen?
Ich meine nicht, dass Sie [ihrem Mann]
Hindernisse in den Weg legen werden für jene Freiheit, die zugleich auch die
Ihrige ist. […] Ich meine im Gegenteil, dass für den Moment nur noch das
Praktische, das zu ordnen sein wird, die Verbindung zwischen Ihnen wird
auszufüllen haben; dass man, so wie die Zusage einmal gegeben ist, alle
gefühlsmäßigen Nachrichten einschränkt oder womöglich unterdrückt,
einerseits um den Anderen nicht leiden zu machen, aber vor allem aus einer
Art [wie soll ich sagen?] Besitzgefühl zum eigenen Leid: Nichts wie dies,
dieses Noch-Leiden um des anderen Willen, ist so geeignet, dem neuen
Alleinsein den Boden vorzubereiten, und die Menschen schienen mir immer im
Unrecht, die meinten, einander mitteilen zu müssen, was der Vollzug einer
Trennung sie gegenseitig koste; sie geben damit dasjenige preis, was
das Eigentümlichste des Wiederanfangs in einem jeden zu sein versprach, und
sie stören damit ein Übernächstes: die Konstellationen ihrer künftigen,
einstigen, arglosen Freundschaft.
40
Auch ich habe mir immer vorgestellt, dass dieses
[…] Dasein der Frau ertragbar werden müsste durch eine reiner geleistete
Liebe des Mannes, der doch bestenfalls mit einem unausgeführten
Liebesentwurf an der Wirklichkeit und Liebe seiner Geliebten beteiligt ist.
Als ein Werbender übertreibt er in dem staunend sich begreifenden Mädchen
die Mächte der Natur, um bald nach der Erwerbung der Erste zu sein, der sie
verleugnet und sich beklagt über die menschliche Hinfälligkeit und
Hilflosigkeit jenes eben noch ihn völlig übertreffenden Geschöpfes. Hier
verrät sich die tiefe Arbeitslosigkeit seiner Liebe, die grade nur Atem
hatte für einen Feiertag und Fassung für das unermessliche Geschenk einer
Nacht: Nein, dazu schon war sie nicht mehr leistend genug, dieses Geschenk
in sich aufzubrauchen und restlos umzuwandeln, ihm eine Verschwiegenheit zu
schaffen, die jene unentbehrliche Unschuld zwischen den Liebenden wieder
herstellt, ohne die sie nicht beisammen bleiben dürften; wenn so, an der
Frau gemessen, der Geliebte im Unrecht zu sein scheint, ein Großtuer der
Liebe, der nicht über die Anfangsgründe der Liebeskunde hinauskommt, der
ewig mit den ersten Lektionen das ganze Gedicht meint gestalten zu können,
für das die Liebende ihm Gleichnis und Rhythmus vorbereitet –, ist er nicht
auf der anderen Seite, ergreifend in seinem Verhängnis, dieser
Vorbeiziehende, Vorbeigezogene –, dieser Blinde, Stürmende, der um die
Welt fahren will und nicht einmal um ein Herz den Weg zu vollenden vermocht
hat?
41
Nie ist der Tod, gerade der empfundenste, als
Lebenshindernis einem überlebenden Wesen auferlegt geblieben, denn seine
innerste Wesenheit ist uns nicht konträr, ist, wie man manchmal erraten
möchte, lebenswissender als wir in unseren vitalsten Momenten. Ich meine
immer, es hat ein solches Gewicht mit seinem ungeheuren Druck die Aufgabe,
uns einer tieferen innigeren Schicht des Lebens einzudrängen, damit wir dann
aus ihr umso fruchtbarer emporwachsen; sehr früh haben die Umstände mir
diese Erfahrung eingeübt und sie hat sich mir von Schmerz zu Schmerz
bestätigt: das Hiesige ist uns nun einmal gegeben und zugemutet und wir
müssen alles, was uns widerfährt, in eine neue Vertraulichkeit und
Befreundung mit ihm umzuwandeln suchen, denn wohin sollten wir uns abwenden
mit Sinnen, die doch für seine Erfassung und Bewältigung vorzüglich
eingerichtet sind, – und wie dürften wir uns der Pflicht entziehen, das uns
von Gott Zugetraute zu bewundern, – worin doch sicher alle Vorbereitung
enthalten ist für jede künftige und ewige Bewunderung!
42
Es ist eine erschreckende Annahme, der
Liebesaugenblick, den wir als einen uns so völlig und tief eigenen und
eigentümlichen empfinden, könnte, über den Einzelnen fort, so ganz von der
Zukunft […] und auf der anderen Seite von der Vergangenheit bestimmt
sein, – aber selbst dann: Es bliebe ihm immer noch seine unbeschreibliche
Tiefe als Ausflucht ins Eigene. Was zu glauben mir durchaus nahe läge. Das
käme mit der Erfahrung überein, wie sehr das ganz inkommensurable Dasein
jeder unserer tiefsten Entzückungen von Dauer und Verlauf sich unabhängig
macht, sie stehen wirklich senkrecht auf den Richtungen des Lebens, wie der
Tod auch senkrecht auf ihnen steht, sie haben mehr mit ihm gemein als mit
allen Zielen und Bewegungen unserer Vitalität. Nur vom Tode her [wenn man ihn nicht als ein Abgestorbensein gelten
lässt, sondern ihn vermutet als die uns durchaus übertreffende Intensität –],
nur vom Tode her, mein ich, lässt sich der Liebe gerecht werden. Aber auch
da ist uns überall die übliche Auffassung dieser Größen beirrend im Wege.
Unsere Traditionen sind unleitende geworden, dürre Äste, die nicht mehr aus
der Kraft der Wurzel gespeist werden.
43
Man kann gar nicht oft genug im Leben das Gefühl
des Anfangs in sich aufwecken, es ist so wenig äußere Veränderung dafür
nötig, denn wir verändern ja die Welt von unserem Herzen aus; will dieses
nur neu und unermesslich sein, so ist sie sofort wie am Tage ihrer Schöpfung
und unendlich.
44
Ich weiß gewiss, dass auch noch das Schlechteste, die Verzweiflung,
nur eine Fülle ist, ein Andrang des Daseins, der sich mit einem einzigen
Entschluss des Herzens ins Gegenteil werfen ließe, und wo etwas schwer und
unerträglich wird, da stehen wir auch immer schon dicht vor seiner
Verwandlung.
45
Was Sie den „Zufall“ nennen […], ist’s nicht
eben doch die Gnade, die zu allem dazukommen muss, was wir unternehmen, das
Geringste kann dadurch eine Ebenbürtigkeit annehmen neben dem Großen, und
schließlich ist alles davon abhängig, jeder Spaziergang, jede Lektüre, wir
reichen immer nur bis vor’s Gelingen, manchmal rascher und sicherer,
manchmal ringend, nicht wissend, wo wir hinaustreten, ob’s aber aufgeht vor
uns, ob’s uns annimmt, uns bejaht –, wer hätte dies je in seiner Macht
gehabt?
46
Gerade vor dem Einschlafen las ich: „Gott hat die Schöpfung, hat den Welten
zuliebe, die sein volles Licht, welches die Unendlichkeit ist, so wie es
ist, nicht aufnehmen konnten, dieses Licht eingeschränkt oder geschwächt …
diese Einschränkung an sich ‹wird Gott genannt.›“ Ist es nicht seltsam
bestürzend und zugleich tröstend, dass wir Gott nur kennen aus seiner
Einschränkung uns gegenüber? Ja, was Großes kennen wir andersher, als eben
nur aus einer Bemühung, für uns nicht zu groß zu sein?
47
Längst hab ich mich ja gewöhnt, die gegebenen Dinge nach ihrer Intensität
aufzufassen, ohne, soweit das menschlich leistbar ist, um die Dauer besorgt
zu sein, – es ist am Ende die beste und diskreteste Art, ihnen
alles zuzumuten –, selbst die Dauer. Fängt man mit
diesem Anspruch an, so verdirbt und verfälscht man jedes Erlebnis, ja
man hemmt es in seiner eigensten, innersten Erfindung und Fruchtbarkeit. Das
eigentlich Unerflehbare kann immer nur dazu-geschenkt
werden, so dacht ich mir auch jetzt: Oft im Leben scheint es nur auf die
längste Geduld anzukommen!
48
Halten Sie sich offen für alles, was kommen mag: das ganze namenlose Leben!
Wenn Sie sich noch so abgeschlossen fühlen: Es will ja doch zu Ihnen!
Und Ihre Sehnsucht ist nur das Gegenspiel jenes Dranges, den das Leben
selber auf Sie zu hat – weshalb sollte es nicht kommen?
49
Es gibt eine Möglichkeit, so weit zu lieben, dass einem die
Unzulänglichkeiten des Liebes-Gegenstands rührend, ja wunderbar werden und
zu einem Anlass, noch um vieles liebender zu sein! – Und es gibt andere
Möglichkeiten daneben, schwere, aber doch beglückende – die Wirklichkeit ist
immer mehr als unsere Vorstellung von ihr, selbst wo sie uns zu
Subtraktionen zwingt: Sie ist immer Welt und uns immer voraus!
50
Askese freilich ist kein Ausweg; sie ist Sinnlichkeit
mit negativem Vorzeichen. Dem Heiligen mag sie, wie eine Hilfskonstruktion,
zustatten kommen; in dem Durchschnittspunkt seiner Entsagungen gewahrt er
jenen Gott des Gegensatzes, den Gott des Unsichtbaren, der noch nicht
geschaffen hat.
Wer aber in die Sinne verpflichtet ist, Erscheinung für
rein und Gestalt für wahr zu halten hat auf Erden, wie dürfte der mit der
Absage beginnen! Und selbst wenn sie sich ihm erst hilfreich und nützlich
erwiese, bei ihm bliebe sie Betrug, List, Erschleichung – und zum Schluss
rächte sie sich irgendwo im Kontur seines Werks, als Härte, als Dürre, als Unzugiebigkeit, als Feigheit vor der Frucht.
51
Unser persönliches Dasein hat keinerlei
Bedeutung für Gott, weit entfernt, ihm seine Dauer zuzumessen, weiß er gar
nichts von seinem Vorhandensein und von dem ungeheuren Werte, den wir seiner
Fristung zuschreiben. Diese Einsicht, wenn man sie nur einmal wirklich erlebte,
würde in den freieren Köpfen keineswegs den Schaden
anrichten, dass Gott geleugnet würde; aber sie wäre imstand, die
wesentlichen Bedingungen seiner Existenz gegen die unsere abzugrenzen.
Nichts macht unfähiger, Gott wirklich zu erfahren, als unser Eigensinn,
Eingriffe seiner Hand dort erkennen
zu wollen, wo sie sich von jeher enthält, – und indem wir uns seine
Teilnehmung an so vielem uns Angehenden einbilden, versäumen wir
wahrscheinlich ihre, an anderen Stellen sich erfüllenden Zeichen und ihre
lautersten Beweise.
Wie viel Kränkung, die mir der Krieg zugefügt hat, kam immer noch davon her,
dass ich das Zugrundegehen so vieler begabter, ja ausdrücklich berufener
Menschen mit Gott nicht vertragen konnte! Irgendein Missverstehen von Gottes
„Schutz“ steckt uns allen im Blut und betrügt uns um eine uns gehörige
Freiheit, deren erste Folge [wenn wir sie zu brauchen verstünden] ein
anderes Verhältnis zum Tode wäre.
Die Spanne zwischen Geburt und Sterben, über die wir „Ich“ schreiben ist
keine Maßeinheit für Gott; Leben + Tod macht für ihn wahrscheinlich erst
einen Gradzwischenraum aus, vielleicht auch ist eine fortgesetzte Reihe
von
Leben und Toden nötig, damit Gott den Eindruck: Einshabe, – vielleicht aber
ist nur der Kreatur im Ganzen verstattet, sich vor ihm „Ich“ zu nennen, und
alles Spielen, Aufkommen und Schwinden in ihr, wäre dann ihre Sache.
Wir müssen uns daran gewöhnen, in einer Atempause Gottes zu liegen, zwischen
zwei seinigen Atemzügen: denn das heißt: in der Zeit sein. Es wäre denkbar,
er hinge mit der Kreatur eben nur durch den Akt zusammen, durch den er sich
ihrer entäußert hat, nur das Unerschaffene hätte dann ein Recht, sich
fortwährend an Gott angeschlossen zu glauben. Die kurze Zeit unseres Daseins
ist vermutlich gerade die, da wir den Zusammenhang mit ihm verlieren,
herausgeraten sind aus ihm, ins Geschaffene, das er allein lässt. Auf
Erinnerungen und Vorgefühle angewiesen, soweit nicht die Aufgabe noch
dringender ist, unsere Sinne anzuwenden an das Hiesige und sie so weit
auszudehnen, bis sie zu einem einzigen Sinn der Bewunderung zusammenwachsen.
52
Wenn doch die Leute ein wenig Lust zum
Unbegrenzten hätten; wenn das Liebe
heißen soll, dieses Bestehen aufeinander, dieses Nicht-wieder-Loslassen,
nicht mal der Erscheinung, so bin ich lieb-los, vom Grunde meines Herzens:
Meine ganze Freude zu den Strömungen und Verwandlungen stürbe in mir ab,
wenn ich denken, glauben, befürchten müsste, jemanden in diesem Sinne, das
heißt, so, wie ich ihn hier zu sehen und zu fassen meinte, wiederzusehen: Da
erst wäre mein ganzes Herz widerlegt, wo ich begriffe, dass mir dies, dieses
Nachsitzen vor einem schlecht Gelernten, in irgendeinem fatalen Jenseits
vorbereitet sei. Und anderen, wie vielen und wie fühlenden Herzen, ist's die
Hoffnung und Stärke ihres Lebens!
53
Übrigens ist er [Malte] es, der mich auffordert,
alle Dinge, die ich gestalten will, mit allen Fähigkeiten meiner Liebe zu
lieben. Denn diese Dinge fragen zuerst: Bist du frei? Bist du bereit, mir
deine ganze Liebe zu widmen? Dich mit mir zu betten, wie Sankt Julian der
Gastfreundliche sich mit dem Aussätzigen bettete, in jener äußersten
Umarmung, die sich nie in einer gewöhnlichen und flüchtigen Nächstenliebe
erfüllen kann, sondern die die Liebe,
die ganze Liebe, alle Liebe, die auf
Erden sich findet, zum Antrieb hat? Und wenn so ein Ding dich beschäftigt
sieht, selbst mit einer Zelle deines Interesses, so verschließt es sich dir.
Es spendet dir vielleicht mit einem Wort eine Regel, macht dir ein kleines,
leicht freundschaftliches Zeichen, aber es versagt es sich, dir sein Herz zu
geben, dir sein geduldiges Wesen zu vertrauen und seine sternhafte
Stetigkeit, die es so sehr den Konstellationen des Himmels gleichen lässt.
Sie müssen ein Ding, auf dass es zu Ihnen
spricht, während einer gewissen Zeit als das einzige nehmen, das existiert,
als die einzige Erscheinung, die durch Ihre arbeitsame und ausschließliche
Liebe sich in den Mittelpunkt des Universums gestellt findet und der an
jenem unvergleichlichen Platz an jenem Tage die Engel dienen.
54
Wir werden wohl von der Rhythmik, die sich im
Weltall erfüllt, keine Ausnahme machen, unsere Bestimmungen durchfluten uns
in unendlicher Ordnung; dass innerhalb der meisten Existenzen, durch die
Einpassung ins Tägliche, Praktische oder durch Ambition und Eigensinn, die
eingeströmte Welle gebrochen wird, geht den Betreffenden irgendwo zum
Schaden aus; aber ein anderer Schaden wäre es, sich das Geheimnis dieser
Gesetzlichkeiten im Bewusstsein aufklären zu wollen.
55
Man ist […] wie der Würfel im Becher: Eine
unbekannte Spielerhand schüttelt ihn zwar, und man stürzt aus ihm und
bedeutet draußen, im Auffallen, viel oder wenig. Aber man wird, nachdem der
Wurf vorüber ist, in den Becher zurückgeholt, und dort, innen, im Becher,
wie man auch zu liegen kommt, bedeutet man alle seine Zahlen, alle seine
Flächen. Und es kommt, im Innern des Bechers, kein Glück in Betracht und
kein Missgeschick, sondern das bloße Dasein, das Würfel-Sein, das
Sechs-Flächen-Haben, sechs Chancen, immer wieder alle –, und die
eigentümliche Sicherheit, sich selber nicht auswerfen zu können; der Stolz,
zu wissen, dass es eines göttlichen Wagnisses bedürfe, damit einer aus der
Tiefe dieses Bechers auf den Tisch der Welt geworfen werde, ins Spiel des
Schicksals. Dies ist der reine Sinne von Tausend und Einer Nacht und dies
die Spannung derer, die diesen Erzählungen zugehören: dass der Lastträger,
der Bettler, der Kameltreiber –, irgendeiner, der nun einen kleinen Wurf
ergeben hat, zurückgenommen wird in den Spielbecher, um noch einmal riskiert
zu sein. Und dass es die Welt ist, in die man fällt, unter Sterne, zu
Mädchen, Kindern, Hunden und Abfällen, dass es nichts Unklares gibt in den
Verhältnissen, in die man geraten kann; zwar zu Großes oder zu Böses, zu
Listiges oder einfach Verhängnisvolles …, aber man hat es entweder mit
anderen Würfeln zu tun oder mit den Würfen, mit den Geistern, die die Becher
schütteln und ein Ihriges wagen dabei. Es ist ein lauteres Spiel, unabsehlich und immer neu aufgenommen, über einen hinaus, aber doch so, dass
keiner in keinem Augenblick wertlos sei oder schlecht oder schmählich; denn
wer kann dafür, dass er so oder so aus dem Becher fällt?
56
So ausgedehnt das „Außen“ ist, es verträgt mit
allen seinen siderischen Distanzen kaum einen Vergleich mit den Dimensionen,
mit der Tiefendimension unseres Inneren, das nicht einmal die
Geräumigkeit des Weltalls nötig hat, um in sich fast unabsehlich zu sein.
[…] Mir stellt es sich immer mehr so dar, als ob unser gebräuchliches
Bewusstsein die Spitze einer Pyramide bewohne, deren Basis in uns [und
gewissermaßen unter uns] so völlig in die Breite geht, dass wir, je weiter
wir in sie niederzulassen uns befähigt sehen, desto allgemeiner einbezogen
erscheinen in die von Zeit und Raum unabhängigen Gegebenheiten des
irdischen, des, im weitesten Begriffe,
weltischen Daseins. Ich habe seit meiner frühesten Jugend die
Vermutung empfunden [und hab ihr auch, wo ich dafür ausreichte, nachgelebt],
dass in einem tieferen Durchschnitt dieser Bewusstseinspyramide uns das
einfache Sein könnte zum Ereignis
werden, jenes unverbrüchliche Vorhanden-Sein und Zugleich-Sein alles dessen,
was an der oberen „normalen“ Spitze des Selbstbewusstseins nur als „Ablauf“
zu erleben verstattet ist.
[…]
Im Übrigen gehört es zu den ursprünglichen
Neigungen meiner Anlage, das Geheime als
solches aufzunehmen, nicht als ein zu Entlarvendes, sondern als
das Geheimnis, das so bis in sein Innerstes, und überall, geheim ist, wie
ein Stück Zucker an jeder Stelle Zucker ist. Möglicherweise, so aufgefasst,
löst es sich unter Umständen in unserm Dasein oder in unserer Liebe, während
wir sonst nur eine mechanische Zerkleinerung des Geheimsten erreichen, ohne
dass es eigentlich in uns überginge. Ich bin [das wäre am Ende die einzige
Stelle in mir, wo eine langsame Weisheit anzusetzen vermöchte] völlig ohne
Neugier dem Leben, meiner eigenen Zukunft, den Göttern gegenüber …
Was wissen wir von den Jahreszeiten der Ewigkeit und ob gerade
Erntezeit wäre! Wie viele Früchte, die für uns gemeint waren oder deren
Gewicht es einfach mit sich gebracht hätte, dass sie uns zugefallen wären, –
wie viel solcher Früchte haben neugierige Geister im Reifen unterbrochen,
eine voreilige, verfrühte Kenntnis, oft ein Missverständnis davontragend, um
den Preis einer zerstörten [späteren] Erbauung oder Ernährung.
57
Was aber eine solche freudige und natürliche
Zuwendung vom Sozialen, wie wir es heute verstehen, durchaus unterscheidet,
ist die völlige Unlust, ja Abneigung, irgendjemandes Lage zu verändern oder,
wie man sich ausdrückt, zu verbessern. Niemandes Lage in der Welt ist so,
dass sie seiner Seele nicht eigentümlich zustatten kommen könnte … Und ich
muss gestehen, mir ist, wo ich an anderem Schicksal teilzunehmen genötigt
war, immer vor allem dieses wichtig und angelegentlich gewesen: dem
Bedrückten die eigentümlichen und besonderen Bedingungen seiner Not erkennen
zu helfen, was jedes Mal nicht so sehr ein Trost, als eine [zunächst
unscheinbare] Bereicherung ist. Es scheint mir nichts als Unordnung zu
stiften, wenn die allgemeine Bemühung [übrigens eine Täuschung!] sich
anmaßen sollte, die Bedrängnisse schematisch zu erleichtern oder aufzuheben,
was die Freiheit des anderen viel stärker beeinträchtigt, als die Not selber
es tut, die mit unbeschreiblichen Anpassungen und beinahe zärtlich, dem der
sich ihr anvertraut, Anweisungen erteilt, wie ihr – wenn nicht nach außen,
so nach innen – zu entgehen wäre. Die Lage eines Menschen bessern wollen,
setzt einen Einblick in seine Umstände voraus, wie nicht einmal der Dichter
ihn besitzt, einer Figur gegenüber, die aus seiner eigenen Erfindung stammt.
Wie viel weniger noch der so unendlich ausgeschlossene Helfende, dessen
Zerstreutheit mit seiner Gabe vollkommen wird. Die Lage eines Menschen
ändern, bessern wollen, heißt, ihm für Schwierigkeiten, in denen er geübt
und erfahren ist, andere Schwierigkeiten anbieten, die ihn vielleicht noch
ratloser finden. Wenn ich irgendwann die imaginären Stimmen des Zwerges oder
des Bettlers in Form meines Herzens ausgießen konnte, so war das Metall
dieses Gusses nicht aus dem Wunsche gewonnen, der Zwerg oder der Bettler
möchten es weniger schwer haben; im Gegenteil, nur durch eine Rühmung ihres
unvergleichlichen Schicksals vermochte der zu ihnen plötzlich entschlossene
Dichter wahr und gründlich zu sein, und er müsste nichts mehr fürchten und
ablehnen als eine korrigierte Welt, darin die Zwerge gestreckt sind und die
Bettler bereichert. Der Gott der Vollzähligkeit sorgt dafür, dass diese
Varietäten nicht aufhören …
58
Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns
unbeschienene Seite des Lebens: Wir müssen versuchen, das größeste
Bewusstsein unseres Daseins zu leisten, das in
beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist,
aus beiden unerschöpflich genährt … Die wahre
Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete, das Blut des größten Kreislaufs
treibt durch beide: Es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die
große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die „Engel“, zu Hause
sind. […]
Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht
einen Augenblick in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen
immerfort über und über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen,
die scheinbar nach uns kommen. In jener größesten „offenen“ Welt sind
alle,
man kann nicht sagen „gleichzeitig“, denn eben der Fortfall der Zeit
bedingt, dass sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein
tiefes Sein. Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen nicht nur
zeitbegrenzt zu gebrauchen, sondern, soweit wir's vermögen, in jene
überlegenen Bedeutungen einzustellen, an denen wir Teil haben. Aber nicht im
christlichen Sinne [von dem ich mich immer leidenschaftlicher entferne],
sondern, in einem rein irdischen, tief irdischen, selig irdischen
Bewusstsein gilt es, das hier Geschaute und Berührte in den weiteren, den
weitesten Umkreis einzuführen. Nicht in ein Jenseits, dessen Schatten die
Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in
das Ganze. Die Natur, die Dinge
unseres Umgangs und Gebrauchs, sind Vorläufigkeiten und Hinfälligkeiten;
aber sie sind, solang wir hier sind, unser
Besitz und unsere Freundschaft,
Mitwisser unserer Not und Frohheit, wie sie schon die Vertrauten unserer
Vorfahren gewesen sind. So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht
zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen,
die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem
innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn
unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so
leidenschaftliche einzuprägen, dass ihr Wesen in uns „unsichtbar“ wieder
aufersteht. Wir sind die Bienen des
Unsichtbaren. […]
Die Erde hat keine andere Ausflucht, als
unsichtbar zu werden: in uns, die wir mit einem Teil unseres Wesens am
Unsichtbaren beteiligt sind, Anteilscheine [mindestens] haben an ihm, und
unseren Besitz an Unsichtbarkeit mehren können während unseres Hierseins, – in
uns allein kann sich diese intime und dauernde Umwandlung des Sichtbaren
in Unsichtbares, vom sichtbar- und greifbar-sein nicht länger Abhängiges
vollziehen, wie unser eigenes Schicksal in uns fortwährend
zugleich vorhanden und unsichtbar
wird.
1 Brief an Bodo Wildberg, 1896
2 Brief an Lou Andreas-Salomé, 8. Juni 1897
3 Brief an Frieda von Bülow, 27. Mai 1899
4 Brief an Helmuth Westhoff, 12. November 1901
5 Brief an Paula Becker-Modersohn, 12. Februar 1902
6 Brief an Clara Rilke, 5. September 1902
7 Brief an Ellen Key, 13. Februar 1903
8 Brief an Ellen Key, 3. April 1903
9 Brief an Lou Andreas-Salomé, 11. August 1903
10 Brief an Lou Andreas-Salomé, 21. Januar 1904
11 Brief an Clara Rilke, 24. Juli 1904
12 Brief an Franz Xaver Kappus, 4. November 1904
13 Brief an ein junges Mädchen [Emmy Hirschfeld], 20. November 1904
14 Brief an Arthur Holitscher, 13. Dezember 1905
15 Brief an Ellen Key, ohne Datumsangabe [in: Ellen Key, Seelen und Werke, Berlin, 1911]
16 Brief an Gräfin Mary Gneisenau, 15. Dezember 1906
17 Brief des Ewald, 2. Februar 1907
18 Brief an Prinzessin Cathia von Schönaich-Carolath, 7. Mai 1908
19 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, 24. September 1908
20 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, Dienstag vor Weihnachten [22. Dez. 1908]
21 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, Sonntag [April 1910]
22 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, Sonntag [April 1910]
23 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, 2. August 1910
24 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, 8. Dezember 1911
25 Brief an Lou Andreas-Salomé, 28. Dezember 1911
26 Brief an Lou Andreas-Salomé, 6. Januar 1913
27 Brief an Sidonie Nádherný von Borutin, 31. Mai 1913
28 Brief an Helene von Nostitz, 27. Januar 1914
29 Brief an Ilse Erdmann, 31. Januar 1914
30 Brief an Magda von Hattingberg, 17. Februar 1914
31 Brief an Magda von Hattingberg, 18. Februar 1914
32 Brief an Magda von Hattingberg, 24. Februar 1914
33 Brief an Annette de Vries-Hummes, 20. August 1915
34 Brief an Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, 6. September 1915
35 Brief an Lotte Heppner, 8. November 1915
36 Brief an Ilse Erdmann, 22. August 1916
37 Brief an Ilse Erdmann, 9. Oktober 1916
38 Brief an Imma Freiin von Ehrenfels, 20. Februar 1917
39 Briefe an Inga Junghanns, 7. März 1919 [1. Absatz], 31. Jänner 1922
[2. Absatz]
40 Brief an Lisa Heise, 30. August 1919
41 Brief an Adelheid von der Marwitz, 11. September 1919
42 Brief an Lisa Heise, 19. Januar 1920
43 Brief an Anita Forrer, 19. Januar 1920
44 Brief an Anita Forrer, 24. Februar 1920
45 Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 10. März 1920
46 Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 15. März 1920
47 Brief an Gräfin Marie Therese Mirbach-Geldern, 25. November 1920
48 Brief an Anita Forrer, 22. Dezember 1920
49 Brief an Anita Forrer, 19. April 1921
50 Das Testament“, April 1921
51 Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 2. Juni 1921
52 Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 2. Juni 1921
53 Brief an Lisa Heise, 1921
54 Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 29. November 1923
55 Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 2. April 1924
56 Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck, 11. August 1924
57 Brief an Hermann Pongs, 21. Oktober 1924
58 Brief an Witold von Hulewicz, November 1925
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