Antoine de Saint-Exupéry |
1 Du weißt, wie ein Hochzeitsmahl aussieht, sobald die Hochzeitsgäste und die Liebenden aufgebrochen sind. Der Tagesanbruch enthüllt die Unordnung, die sie zurückgelassen haben. Zerschlagene Krüge, umgestürzte Tische, die erloschene Kohlenglut, all das bewahrt den Abdruck eines wilden Treibens, das nun erstarrt ist. Doch wenn du diese Spuren abliest, wirst du nichts über die Liebe erfahren. Wenn der Analphabet das Buch des Propheten wiegt und wendet, wenn er bei der Zeichnung der Buchstaben und dem Gold der ausgemalten Bilder verweilt, verfehlt er das Wesentliche; denn dieses besteht nicht im nichtigen Gegenstand, sondern in der göttlichen Weisheit. So ist das Wesentliche einer Kerze nicht das Wachs, das seine Spuren hinterlässt, sondern das Licht. 2 Ich will, dass die Menschen die lebendigen Wasser der Quellen liebgewinnen. Und die einheitliche Fläche der grünen Gerste, unter der sich die Risse des Sommers wieder geschlossen haben. Ich will, dass sie die Wiederkehr der Jahreszeiten preisen. Ich will, dass sie sich gleich reifenden Früchten von Stille und Langsamkeit nähren. Ich will, dass sie lange ihre Verstorbenen beweinen und lange die Toten ehren, denn das Erbe geht nur langsam von einer Generation auf die andere über, und ich möchte nicht, dass sie unterwegs ihren Honig verlieren. Ich will, dass sie dem Ölzweig gleichen. Ihm, der wartet. Dann werden sie beginnen, den großen Pendelschlag Gottes in sich zu spüren; denn Gott kommt wie ein Hauch, um den Baum zu erproben. Er führt sie und geleitet sie heim, von der Morgenröte zur Nacht, vom Sommer zum Winter, von der sprießenden Saat zur geborgenen Ernte, von der Jugend zum Alter und vom Alter sodann zu neuen Kindern. Denn so wenig wie vom Baum weißt du vom Menschen, wenn du ihn in seiner Dauer ausbreitest und ihn nach seinen Unterschieden einteilst. Mitnichten ist der Baum zuerst Same, dann Spross, dann biegsamer Stamm, dann dürres Holz. Man darf ihn nicht zerlegen, wenn man ihn kennenlernen will. Der Baum ist jene Macht, die sich langsam dem Himmel vermählt. So steht es mit dir, du kleiner Mensch. Gott lässt dich geboren werden und aufwachsen, er erfüllt dich nacheinander mit Wünschen und Klagen, mit Freuden und Leiden, mit Zorn und Vergebung, dann nimmt er dich heim zu sich. Du bist indessen weder dieser Schüler noch dieser Gatte, weder dieses Kind noch dieser Greis. Du bist einer, der sich vollendet. Und wenn du dich als ein wiegender Zweig zu entdecken weißt, der fest mit dem Ölbaum verwachsen ist, wirst du in deinen Bewegungen die Ewigkeit kosten. Und alles um dich her wird ewig werden. Die Quelle wird ewig sein, die ihr Lied singt und schon deine Väter gelabt hat; das Licht der Augen wird ewig sein, wenn dir deine Geliebte zulächelt; und ewig wird sein die Kühle der Nächte. Die Zeit ist dann nicht mehr ein Stundenglas, das seinen Sand verbraucht, sondern eine Schnitterin, die ihre Garbe bindet. 3 Die entscheidende Nahrung empfängt der Mensch nicht von den Dingen, sondern von dem Knoten, der die Dinge verknüpft. Es ist nicht der Diamant, der ihn speist, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen den Menschen und dem Diamant; nicht die Sandwüste, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen der Sandwüste und den Stämmen, die sie bewohnen; nicht die Worte des Buches, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen den Worten des Buches, die Liebe, Dichtung und Weisheit Gottes bedeuten. Wenn ich euch auffordere, zusammenzuarbeiten und zusammenzuhalten und ein großes Ganzes zu bilden, das jeden bereichert, der daran teilhat, und wenn ich wünsche, dass ihr zu Kindern des Reiches werdet, wenn ich euch in das Reich meiner Liebe einschließe – wie solltet ihr dadurch nicht gedeihen, und wie könntet ihr dann widerstehen? Die Schönheit eines Gesichtes besteht nur in dem Zusammenhang seiner Teile. Und es überwältigt euch durch seine Erscheinung. So ist es auch mit jenem Gedicht, das euch Tränen entlockt. Ich habe Sterne und Brunnen und Klagen verwendet. Und es ist nichts anderes darin. Ich habe sie aber geformt, wie mein Geist es mir eingab. So dienten sie als Schemel einer Gottheit, die sie beherrscht, doch in keinem von ihnen enthalten ist. 4 Keiner hat je eine freudige Häutung gekannt. Und mit dem, was ich euch künde, ziehe ich euch aus eurer Haut wie aus einer Hülle, um euch der Schlange gleich mit einer neuen Haut zu bekleiden. Und so wird jener Gesang zu einem Hymnus werden, so wie durch einen Funken ein Waldbrand entsteht. Der Mensch aber, der diesen Gesang zurückweist, und die Menge, die dem Einzelnen verwehrt, sich von ihr loszulösen und sich in die Berge zurückzuziehen, siehe, die töten den Geist. Denn der Raum des Geistes, dort, wo er seine Flügel öffnen kann, das ist die Stille. 5 Ich kann nicht über die Liebe wie über einen Vorrat verfügen: Sie ist vor allem eine Betätigung meines Herzens. Die Liebe wird dir nicht als Geschenk gegeben von dem Gesicht, das dir begegnet, und ebenso entsteht deine Heiterkeit nicht durch die Landschaft, sondern durch den Aufstieg, den du überwunden hast. Durch den Berg, den du bezwungen hast. Durch dein Fußfassen im Himmel. So ist es auch mit der Liebe. Denn es ist ein Irrtum, zu glauben man begegne ihr, wenn man sie erlerne. Und der täuscht sich, der im Leben herumirrt, um sich von ihr erobern zu lassen; der von einem kurzen Fieber her die Lust kennt, die der Aufruhr des Herzens bereitet, und davon träumt, er könne dem großen Fieber begegnen, das ihn für das ganze Leben entflammen werde. Der schwache Sieg seines Herzens beruht nur auf der Enge seines Geistes und der Kleinheit des Hügels, den er überwunden hat. Ebenso wenig kannst du dich in der Liebe ausruhen, wenn sie sich nicht Tag für Tag wie eine Mutterschaft verwandelt. Du aber möchtest dich in deine Gondel setzen und dein Leben lang zum Lied des Gondoliere werden. Aber du irrst dich. Denn all das ist ohne Wert, was nicht Aufstieg oder Übergang ist. Und wenn du innehältst, wirst du der Langeweile begegnen, da dir ja die Landschaft nichts mehr zu sagen hat. Und so verstößt du die Frau, obwohl du zuerst dich selber verstoßen solltest. 6 Das Argument des Ungläubigen und des Logikers hat mich niemals beeindruckt, der mir sagt: „Zeige mir doch das Landgut oder das Reich oder Gott, denn ich sehe und berühre die Steine und Stoffe und glaube an die Steine und Stoffe, die ich berühren kann.“ Ich habe mir aber noch nie angemaßt, ihn durch die Offenbarung eines Geheimnisses belehren zu wollen, das dürftig genug wäre, um sich auf eine Formel bringen zu lassen. Genauso wenig kann ich ihn auf einen Berg hinauftragen, um für ihn die Wahrheit einer Landschaft zu entdecken, die er sich nicht selber erobert hat, oder ihn eine Musik genießen lassen, die er sich nicht selbst erst erarbeitet hat. Er wendet sich an mich, weil er mühelos belehrt werden möchte, so wie ein anderer die Frau sucht, die ihm die Liebe vor die Füße lege. Wenn ich einen der Liebe öffnen will, werde ich das Fundament für die Liebe in ihm legen durch Übung im Gebet. Der Irrtum rührt daher, dass sie gesehen haben, wie ein Liebender das Antlitz entdeckt, das ihn entflammt. Und so glauben sie an die Macht des Antlitzes. Oder sie sahen, dass einer, der sich ein Gedicht zu eigen gemacht hat, durch das Gedicht entflammt wurde, und so glauben sie an die Macht des Gedichts. Ich aber wiederhole dir abermals: Wenn ich Gebirge sage, so bezeichne ich das Gebirge dir, der du dich an seinen Dornen gerissen hast, dich unversehens in seinen Abgründen fandest, deinen Schweiß auf seinen Steinen ließest, seine Blumen pflücktest und dich sodann auf seinen Graten von allen Winden umwehen ließest … Wenn ich zu einem fetten Krämer vom Gebirge spreche, so berühre ich nichts in seinem Herzen. Ich habe die Beziehungen zwischen den Menschen mit wirklicher Aufmerksamkeit verfolgt und deutlich die Gefahren einer Klugheit wahrgenommen, die in dem Glauben lebt, dass die Sprache oder die Antworten in einem Wortwechsel etwas zu erfassen vermöchten. Denn das, was in mir ist, lässt sich keineswegs auf dem Weg der Sprache übermitteln. Es gibt kein Wort, um das auszusprechen, was in mir ist. Ich kann es nur in dem Maße bezeichnen, in dem du es schon auf anderen Wegen als durch das Wort verstehst, etwa durch das Wunder der Liebe. 7 Es ist mir vergönnt zu begreifen, dass aller Fortschritt des Menschen in der Entdeckung besteht, wie seinen Fragen, einer nach der anderen, keinen Sinn mehr haben; habe ich doch meine Weisen befragt, und sie haben nicht etwa einige Antworten auf die Fragen des letzten Jahres gefunden, nein, Herr, sie lächeln heute über sich selber, denn die Wahrheit kam ihnen als das Auslöschen einer Frage. Ich weiß wohl, Herr, dass die Weisheit nicht in der Antwort besteht, sondern dass sie von der wetterwendischen Sprache erlöst. Und das gilt auch für die Liebenden. Ich kenne die Liebe und weiß: Sie besteht darin, dass keine Frage mehr gestellt wird. Und ich überwinde Gegensatz um Gegensatz und schreite auf die Stille aller Fragen zu. So finde ich die Seligkeit. 8 Ich weiß, dass Heilung nur der Hymnus bringen kann, nicht aber Erklärungen. Haben die Erklärungen der Ärzte jemals wieder lebendig gemacht? Sie sagen: „Aus diesem Grund ist er gestorben.“ Freilich ist er infolge einer erkennbaren Ursache und einer Störung in seinen Eingeweiden gestorben. Aber das Leben war etwas anderes als eine Anordnung der Eingeweide. Und wenn du mit deiner Logik alles vorbereitet hast, geht es wie mit einer Öllampe, die du angefertigt und mit einer Fassung versehen hast, die aber erst Licht spendet, wenn du sie anzündest. Du liebst, weil du liebst. Es gibt keinen Grund für deine Liebe. 9 Du suchst einen Sinn im Leben, wo doch sein Sinn vor allem darin besteht, dass du dich selber findest. Wenn dir etwas widerstrebt und dich peinigt, so lass es wachsen; es bedeutet, dass du Wurzeln schlägst und dich wandelst. Dein Leid bringt Segen, wenn es dir zur Geburt deiner selbst verhilft, denn keine Wahrheit offenbart sich dem Augenschein und lässt sich dadurch erlangen. Und die Wahrheiten, die man dir auf solche Weise darbietet, sind nur eine bequeme Lösung und gleichen einem Schlafmittel. Ich verachte die Menschen, die sich innerlich abstumpfen, um zu vergessen, oder die den Drang ihres Herzens ersticken, um in Frieden zu leben. Denn du musst wissen, dass dich jeder unlösbare Gegensatz, jeder unheilbare Streit dazu zwingt, größer zu werden, damit du ihn in dich aufnehmen kannst. Und so geschieht es, dass dich ein Leid wachsen macht, wenn du es bejahst. Es gibt schwache Menschen, die nicht über sich hinauswachsen können. Sie finden ihr Glück in der Mittelmäßigkeit, nachdem sie das in sich abtöteten, was groß an ihnen war. Sie verweilen ihr Leben lang in einer Herberge. Sie haben sich selber verstümmelt. Und es kümmert mich wenig, was aus ihnen wird und ob sie leben. Sie nennen es Glück, wenn sie auf ihren armseligen Vorräten versumpfen. Sie lehnen äußere und innere Feinde ab. Sie verzichten darauf, die Stimme Gottes zu hören, die sich in unaussprechlicher Not, in Suche und Durst kundtut. Sie streben nicht nach der Sonne wie die Bäume im Waldesdickicht; denn auch diese erlangen die Sonne nicht als Vorrat oder Reserve – ein jeder Baum erstickt ja im Schatten der anderen –, sondern streben ihr zu, während sie aufwachsen; wie herrliche glatte Säulen geformt, schießen sie aus dem Boden empor und erlangen ihre Kraft durch das Streben nach ihrem Gott. Gott lässt sich nicht erreichen, aber er steht als Ziel vor dir, und der Mensch baut sich wie ein Geäst in den Raum hinein. Verachte deshalb die Urteile der Masse! Denn sie führen dich auf dich selbst zurück und hindern dich am Wachsen. Das Gegenteil der Wahrheit nennen sie Irrtum, deine Kämpfe erscheinen ihnen einfältig, und die Gärstoffe, die deinen Aufstieg beflügeln, weisen sie als unannehmbar zurück, da sie Frucht des Irrtums seien. So wollen sie dich auf deine Vorräte beschränken; sie möchten, dass du als Schmarotzer dich selber ausbeutest und dich im Kreis drehst. Und wie solltest du dich dann getrieben fühlen, Gott zu suchen und deinen Lobgesang zu dichten und weiter auf den Berg zu steigen, um die zerstörte Landschaft unter deinen Schritten wiederaufzubauen, oder um die Sonne in dir zu suchen, die du nicht ein für allemal gewinnst, sondern nur erlangst, wenn du täglich dem Licht nachstrebst? Lass sie nur reden! Ihre Ratschläge kommen aus einem schwachen Herzen, das dich vor allem glücklich wissen möchte. Sie wollen dir zu früh jenen Frieden geben, der dir nur durch den Tod zuteil wird; dann werden dir deine Vorräte endlich zugute kommen. Denn diese sind nicht für das Leben bestimmt, sondern Bienenhonig für den Winter der Ewigkeit. 10 Du lernst die Liebe nur während der Ferien von der Liebe kennen. Und die blaue Landschaft deiner Berge lernst du nur zwischen den Felsen kennen, die auf den Grat hinaufführen. Und Gott lernst du nur kennen, wenn du dich in Gebete versenkst, auf die dir keine Antwort zuteil wird. Denn nur das, was dir außerhalb deiner verströmenden Tage gewährt wird, erfüllt dich mit einem Glück, bei dem du keine Abnutzung zu befürchten brauchst; es wird dir geschenkt werden, wenn die Zeiten sich für dich erfüllt haben und dir zu sein vergönnt wird, nachdem du dein Werden vollendet hast. Freilich kannst du dich darin irren und den bedauern, der seinen Ruf in die leere Nacht hinaussendet und glaubt, die Zeit vergehe umsonst und beraube ihn seiner Schätze. Solch ein Durst nach Liebe ohne Liebe kann dich beunruhigen, wenn du vergessen hast, dass die Liebe ihrem Wesen nach nichts als Durst nach Liebe ist. Und ich sage dir, dass es vor allem auf die entgangene Gelegenheit ankommt. Die Zärtlichkeit durch Gefängnismauern hindurch ist vielleicht die einzige große Zärtlichkeit. Das Gebet ist fruchtbar, solange Gott nicht antwortet. Und es sind die Steine und Dornen, die die Liebe nähren. 11 Einer nennt nur denjenigen seinen wahrhaften Freund, dem er Geld anvertrauen könnte, ohne dass er einen Diebstahl des Geldes zu befürchten hätte – dann besteht die Freundschaft aus der Treue, wie sie von Bediensteten gefordert wird –, oder den er um einen Gefallen bitten könnte, den er ihm auch erweisen würde – und dann ist die Freundschaft nur ein Vorteil, den man aus den Menschen herausholt –, oder der ihn notfalls verteidigen würde. Und so ist die Freundschaft eine Gunstbezeigung. Ich verachte aber alle Rechenkunst und nenne den Menschen meinen Freund, den ich in meinem Gegenüber entdeckt habe, den Menschen, der vielleicht vergraben unter seiner Schlacke schläft, sich aber vor meinen Augen herauszulösen beginnt; denn er hat mich erkannt und lächelt mir zu, selbst wenn er mich später verraten sollte. 12 Du kannst nicht die Frau lieben, du kannst nur durch die Frau hindurchlieben. Du kannst nicht das Gedicht, sondern nur durch das Gedicht hindurchlieben. Du kannst nur durch die Landschaft hindurchlieben, die du von der Bergeshöhe erspähst. Und die Zügellosigkeit entsteht aus der Angst, dass du dein Dasein verfehlen könntest. So wälzt sich der Schlaflose auf seinem Lager hin und her, weil er die kühlende Schulter des Bettes sucht. Aber kaum hat er sie gefunden, ist sie auch schon wieder lauwarm und verweigert sich. Und so sucht er anderswo nach einem Quell, der ihm ständige Kühlung spenden könnte. Der ist aber nicht zu finden, denn kaum rührt er daran, so ist der Vorrat schon vergeudet. So ist es auch mit dem Mann oder der Frau, die nur das Leere in allen Wesen sehen, denn diese sind leer, wenn sie nicht als Fenster oder Luken zu Gott führen. Deshalb liebst du in der gewöhnlichen Liebe nur das, was vor dir flieht, denn sonst bist du schon gleich gesättigt und ekelst dich über dein Befriedigtsein. Die wirkliche Frucht findet sich nur hinter den Dingen. Es kann geschehen, dass eine Frau, die schöner, vollkommener, edelmütiger ist, dir Gott doch nur in weiterer Ferne zeigt. Denn es ist nichts in ihr, was du beruhigen, sammeln, vereinigen könntest. Und wenn sie dich bittet, du möchtest dich ihr allein widmen und dich in ihrer Liebe einschließen, will sie dich nur zu einer Selbstsucht zu zweien verleiten, die man fälschlich Licht der Liebe nennt, während es sich dabei nur um eine sinnlose Feuerbrunst und ein Plündern der Speicher handelt. Ich habe meine Vorräte nicht angesammelt, um sie in einer Frau einzuschließen und daran Gefallen zu finden. Mit all ihrer Untreue, ihrer Lüge, ihren Fehltritten lockte daher eine andere weit mehr aus mir heraus; sie drang tiefer zum Quell des Herzens vor. Sie zwang mich in der Stille zu leben, die ein Ausdruck der wahren Liebe ist, und ließ mich so die Ewigkeit kosten. 13 Verwechselt nicht die Liebe mit dem Rausch des Besitzes, der die schlimmsten Leiden mit sich bringt. Denn ihr leidet nicht unter der Liebe, wie die Leute meinen, sondern unter dem Besitztrieb, der das Gegenteil der Liebe ist. Eure Liebe hat Hass als Grundlage, denn ihr verweilt bei dem Mann oder der Frau, aus denen ihr euren Vorrat schöpft; und wie die Hunde, die ihren Trog umkreisen, beginnt ihr jeden zu hassen, der auf euer Mahl schielt. Diesen Futterneid nennt ihr dann Liebe. Kaum wird euch die Liebe gewährt, so verwandelt ihr auch dieses freie Geschenk wie bei euren unechten Freundschaften in Knechtschaft und Versklavung. Gewiss bin auch ich in meiner Jugend unter den funkelnden Sternen auf der Terrasse auf und ab gewandert, weil irgendeine Sklavin entflohen war, von der ich meine Genesung erhoffte. Ich hätte Armeen aufgestellt, um sie zurückzugewinnen. Und ich hätte ihr Provinzen zu Füßen gelegt, um sie zu besitzen. Aber Gott ist mein Zeuge, dass ich niemals den Sinn der Dinge vermischt und diese Suche nach meiner Beute Liebe genannt hätte, selbst wenn ich mein Leben dafür aufs Spiel setzte. 14 Ich erkenne die Freundschaft daran, dass sie sich nicht enttäuschen lässt, und ich erkenne die wahre Liebe daran, dass sie nicht gekränkt werden kann. Wenn man dir sagt: „Verstoße sie, denn sie kränkt dich …“, so höre dir solche Rede geduldig an, aber ändere dein Verhalten nicht, denn in wessen Macht steht es, dich zu kränken? Und wenn man dir sagt: „Verstoße sie, denn all deine Mühe ist vergebens …“, so höre dir diese Rede geduldig an, aber ändere dein Verhalten nicht, denn du hast deine Wahl schon vollzogen. Und wenn man dir auch stehlen kann, was du empfängst, – wer hätte Macht, dir zu stehlen, was du schenkst? Und wenn man dir sagt: „Hier hast du Schulden. Hier hast du keine. Hier erkennt man deine Geschenke an. Hier spottet man darüber“, so verstopfe dir die Ohren vor solcher Rechnerei. Den wahrhaft Liebenden erkenne ich daran, dass er nicht gekränkt werden kann. Die wirkliche Liebe beginnt, wo keine Gegengabe mehr erwartet wird. 15 Deine gesamte Vergangenheit ist nur eine Geburt. Und wenn du etwas bedauerst, bist du genauso töricht wie einer, der bedauert, dass er nicht in einem anderen Zeitalter geboren wurde oder der noch Kind sein möchte, während er doch schon erwachsen ist, oder der lieber in einem anderen Land lebte, und der die Verzweiflung, die ihn ständig begleitet, mit solch albernen Träumereien nähren würde. Der ist ein Narr, der sich an der Vergangenheit die Zähne ausbricht, denn sie ist ein Granitblock und ist bereits verstrichen. Bejahe den Tag, wie er dir geschenkt wird, statt dich am Unwiederbringlichen zu stoßen. Das Unwiederbringliche besitzt keinen Wert, denn es ist der Stempel, der allem Vergangenen aufgeprägt ist. Und ein erreichtes Ziel, einen abgelaufenen Zyklus, eine abgeschlossene Epoche gibt es nur für die Geschichtsschreiber, die solche Einteilungen konstruieren. Der Sinn der Dinge liegt nicht im schon angesammelten Vorrat, den die Sesshaften verzehren, sondern in der Glut der Verwandlung, des Voranschreitens oder der Sehnsucht. 16 Ich kann dir jenes große Geheimnis mitteilen, das sich unter gewöhnlichen und einfachen Worten verbirgt und das mich die Weisheit allmählich im Lauf des Lebens gelehrt hat: Dass nämlich die Vorbereitung der Zukunft nur im Begründen der Gegenwart besteht. Und dass alle sich in Utopien und Bestrebungen verzehren, die fernen Bildern nachjagen, den Früchten ihrer eigenen Erfindung. Die einzige wahrhafte Erfindung besteht in einer Entzifferung der Gegenwart, ihrer unzusammenhängenden Aspekte und ihrer widerspruchsvollen Sprache. Wisse, dass jede wirkliche Schöpfung nicht in einer Vorwegnahme der Zukunft, in der Verfolgung von Hirngespinsten und Utopien besteht; sie ist vielmehr ein neues Gesicht, in das du jetzt blickst, in einen ungeordneten Vorrat an Material als Erbe, über das du dich weder freuen noch beklagen solltest, denn da es entstanden ist, existiert es nun einmal, so wie du selber existierst. Lass also die Zukunft wie einen Baum gedeihen, der nach und nach seine Zweige entfaltet. Von Gegenwart zu Gegenwart wird der Baum wachsen, bis er vollendet in seinen Tod eintritt. Sorge dich nicht um mein Reich. Seit die Menschen jenes Gesicht im Vielerlei der Dinge erkannten, seit ich wie ein Bildhauer den Stein meißelte, habe ich in der Majestät meiner Schöpfung ihrem Schicksal die Richtung gewiesen. Und fortan werden sie von Sieg zu Sieg schreiten, fortan werden die Lieder meiner Sänger einen Inhalt haben, da sie ganz einfach das Leben feiern, statt die toten Götter zu rühmen. Sieh meine Gärten, in denen meine Gärtner im Morgengrauen darangehen, den Frühling zu erschaffen; sie streiten sich nicht um die Blumen, ihre Stempel und Kronen, sie säen die Samenkörner. Und so sage ich euch, den Verzagten, den Unglücklichen, den Geschlagenen: Ihr seid das Heer eines Sieges! Denn ihr beginnt in diesem Augenblick, und es ist schön, so jung zu sein. Höre niemals auf die Ratgeber, die dir dadurch einen Dienst zu erweisen glauben, dass sie dir empfehlen, eine deiner Bestrebungen aufzugeben. Du kennst sie, deine Berufung, denn du spürst, wie sie auf dir lastet. Und wenn du sie preisgibst, verunstaltest du dich selber, aber wisse, dass deine Wahrheit langsam Form annehmen wird, denn sie ist Geburt eines Baumes und nicht glücklicher Fund einer Formel, denn es ist vor allem die Zeit, die eine Rolle spielt, denn du sollst ein anderer werden und einen schwierigen Berg ersteigen. Denn das neue Wesen, das als Einheit aus dem Vielerlei der Dinge hervortritt, zwingt sich dir nicht wie die Lösung eines Bilderrätsels auf, sondern es befriedet den Streit und heilt die Wunden. Und seine Macht wirst du erst erkennen, wenn es Wirklichkeit geworden ist. Deshalb habe ich stets um des Menschen willen Langsamkeit und Stille als allzu vergessene Götter geehrt. 17 Wenn du Freundschaften dort begründen willst, wo man nur noch die Aufteilung von Vorräten und die daraus folgende Aufspaltung der Herzen kennt, so finde zur Ehrfurcht vor den Menschen zurück. Und wisse, dass sich in einer Gemeinschaft nur atmen lässt, wenn keiner den anderen bekrittelt. Wenn du schlecht von deinem Freund denkst und es aussprichst, so besagt das, dass du ihm noch nicht auf einer menschlichen Stufe begegnet bist. Es handelt sich dabei nicht um Nachsicht oder Schwäche oder Sittenerweichung. Deine Strenge hat ihren Sitz anderswo und du bist anderswo Richter. 18 Ihr werdet die Bewegung der Blume nie kennenlernen: Sie schüttelt im Wind all ihre Samenkörner ab und wird sie nicht zurückerhalten. Ihr werdet die Bewegung des Baumes nie kennenlernen: Er gibt seine Früchte hin und wird sie nicht zurückerhalten. Ihr werdet den Jubel des Menschen nie kennenlernen: Er gibt sein Werk hin und wird es nicht zurückerhalten. Ihr werdet die Inbrunst des Tänzers nie kennenlernen: Er gibt seinen Tanz hin und wird ihn nicht zurückerhalten. Ich verlange von dir, dass du nicht von dem leben sollst, was du empfängst, sondern von dem, was du gibst, denn dadurch allein wirst du wachsen. Und damit ist nicht gesagt, dass du deine Gaben verachten sollst. Du sollst deine Frucht bilden. Was aber bedeutet dir eine Frucht? Deine Frucht hat für dich nur Wert, wenn sie dir nicht zurückgegeben werden kann. 19 Ich sah, wie sie in dem einen Lager Töpferwaren fertigten, die schön waren. Und in dem anderen Lager fertigten sie Töpferwaren, die hässlich waren. Und es wurde mir klar, dass sich kein Gesetz abfassen lässt, das die Töpferwaren zu verschönern vermöchte. Es helfen dabei weder Aufwendungen für die Ausbildung der Lehrlinge noch Preiswettbewerbe noch Ehrungen. Und ich bemerkte sogar, dass alle die, deren Ehrgeiz bei ihrer Arbeit auf andere Ziele als auf die Qualität des Gegenstandes gerichtet war, nur überzogene und vulgäre und komplizierte Dinge zuwege brachten, selbst wenn sie die Nächte durcharbeiteten. Denn in Wahrheit widmeten sie ihre durchwachten Nächte ihrer Käuflichkeit oder ihrer Unzucht oder ihrer Eitelkeit, also sich selber, und so tauschten sie sich nicht mehr in Gott aus, denn sie tauschten sich nicht gegen ein Ding aus, das zur Quelle des Opfers und zum Gleichnis Gottes geworden war, eines Dinges, in das all ihre Runzeln und Seufzer und schweren Lider, ihre von so vielem Kneten zitternden Hände, die Zufriedenheit des Feierabends und die verbrauchte Inbrunst eingehen konnten. Denn ich kenne nur ein fruchtbares Tun, und das ist das Gebet; aber ich weiß auch, dass jedes Tun ein Gebet ist, wenn du dich ihm hingibst, um zu werden. Du bist wie der Vogel, der sein Nest baut, und das Nest ist warm, wie die Biene, die ihren Honig sammelt, und der Honig ist süß, wie der Mensch, der seinen Krug aus Liebe zum Krug, also aus Liebe, also im Gebet knetet. Glaubst du an das Gedicht, das geschrieben wurde, damit man es verkaufe? Wenn das Gedicht zur Handelsware wird, ist es kein Gedicht mehr. Wenn der Krug zum Gegenstand eines Preiswettbewerbs wird, ist er nicht mehr Krug und Gleichnis Gottes, sondern Gleichnis deiner Eitelkeit und deiner niedrigen Begierden. 20 Der Schöpfungsakt bleibt unsichtbar so wie die Liebe unsichtbar bleibt, die aus der Zusammenhanglosigkeit der Dinge ein Landgut erschafft. Es ist unfruchtbar, wenn du zu verblüffen oder zu beweisen suchst. Wie könntest du je das Landgut beweisen? Wenn du es anrührst, um davon zu reden, ist es schon zu einer Ansammlung von Dingen geworden. Wenn du den Tempel anrührst und seine Steine abträgst, um den Schatten und das Schweigen des Tempels zu erklären, ist dein Werk vergeblich, denn kaum hast du es berührt, ist es schon ein Durcheinander von Steinen und nicht mehr Stille. 21 Wenn ich dir die Frau von der Seite zeige, von der sie am schönsten ist und Liebe erweckt, fühlst du einfach Liebe. Wie solltest du dich aus freiem Entschluss der Liebe versagen, die dich gerade in diesem Augenblick und keinem anderen hier festhält? Irgendwo musst du ja sein! Und mein Schöpfungsakt besteht nur in der Wahl der Zeit und der Stunde, über die sich nicht streiten lässt, sondern die schlicht existiert. Und deine Entschlussfreiheit ist dir völlig gleichgültig. Hast du schon erlebt, dass sich ein Verliebter der Liebe unter der Beteuerung entzogen hätte, jene Begegnung sei nur Zufall gewesen, und die Frau, nach der er sich verzehrt, hätte ja auch gestorben oder niemals geboren sein oder sich anderswo aufhalten können? Ich habe deine Liebe dadurch erschaffen, dass ich Zeit und Stunde für sie wählte: Auch wenn du mein Eingreifen ahnen solltest, kannst du dich nicht dagegen zur Wehr setzen, und also bist du mein Gefangener. 22 Mich überkam das Verlangen nach dem Tod. Gib mir den Frieden des Stalls, sprach ich zu Gott, den Frieden der geordneten Dinge, der eingebrachten Ernte. Lass mich sein, da ich mein Werden vollendet habe. Ich bin der Trauer meines Herzens müde. Ich bin zu alt, um all meine Zweige wieder sprießen zu lassen. Nacheinander habe ich meine Freunde und meine Feinde verloren, und traurige Mußestunden werfen ihr Licht auf meinen Weg. Ich bin von nutzlosen Schätzen schwer, wie wenn mich eine Musik erfüllte, die niemals mehr verstanden werden wird. Erscheine mir, Herz, denn alles ist schwer, wenn man dich nicht mehr spürt. 23 Es begab sich jedoch, dass meine Verzweiflung einer unerwarteten und eigentümlichen Heiterkeit wich. Ich versank im Schlamm des Weges, ich riss mich an den Dornen wund, ich kämpfte gegen die peitschenden Windstöße an, und doch kam eine gefestigte Klarheit über mich. Denn ich wusste nichts. Ich hatte Gott nicht berührt. Doch ein Gott, der sich berühren lässt, ist kein Gott mehr. Er ist es auch nicht mehr, wenn er dem Gebet gehorcht. Und zum ersten Mal ahnte ich: Die Größe des Gebets beruht vor allem darauf, dass ihm nicht geantwortet wird und dass dieser Austausch nichts mit einem schäbigen Handel zu tun hat. Und ich ahnte, dass das Erlernen des Gebets im Erlernen des Schweigens besteht und dort erst die Liebe beginnt, wo kein Geschenk mehr zu erwarten ist. Die Liebe ist vor allem Übung des Gebets und das Gebet Übung des Schweigens. 24 Ich lehne die Schönheit als Ziel ab. Hast du schon einen Bildhauer sagen hören: „Aus diesem Stein werde ich die Schönheit herausholen“? Die so reden, betrügen sich mit einer hohlen Schwärmerei und bringen nur Schund zuwege. Den anderen, den echten Bildhauer wirst du sagen hören: „Ich suche dem Stein etwas abzugewinnen, was dem Gewicht gleicht, das in mir lastet. Nur wenn ich den Stein behaue, vermag ich mich von ihm zu befreien.“ Das Gesicht, das so entsteht, mag alt und plump sein, es mag eine missgestaltete Maske zeigen oder den Schlaf der Jugend darstellen: Wenn es ein großer Bildhauer erschuf, wirst du gleichwohl sagen, dass das Werk schön ist. Denn die Schönheit ist keineswegs mehr Ziel, sondern eine Belohnung. Im Schweigen meiner Liebe habe ich mich lange damit abgegeben, in meinem Volk die Menschen zu beobachten, die glücklich zu sein schienen. Und ich habe stets wahrgenommen, dass ihnen das Glück, gleich wie der Statue die Schönheit, zuteil wurde, weil sie es nicht gesucht hatten. Verlange daher nicht von mir, dem Herrn eines Reiches, ich solle das Glück für mein Volk erobern. Verlange nicht von mir, dem Bildhauer, ich solle der Schönheit nachlaufen: Ich werde mich niedersetzen, weil ich nicht weiß, wohin ich laufen sollte. Die Schönheit wird, und ebenso das Glück. Verlange nur von mir, dass ich den Menschen eine Seele bilde, in der ein solches Feuer zu brennen vermag. 25 Eine äußerste Müdigkeit überkam mich. Ich fühlte mich ohne Schlussstein, und nichts fand in mir Widerhall. Sie war verstummt, die Stimme, die in der Stille spricht. Und als ich den höchsten Turm erstiegen hatte, dachte ich: „Wozu diese Sterne?“ Und als ich meine Besitzungen mit dem Auge maß, fragte ich mich: „Wozu diese Besitzungen?“ Und als eine Klage von der schlafenden Stadt aufstieg, fragte ich mich: „Wozu diese Klage?“ Ich war verloren, wie ein Fremder in einer zusammenhanglosen Menge, die nicht seine Sprache spricht. Ich war wie ein Gewand, das der Mensch ausgezogen hat. Abgelegt und allein. Ich glich einem unbewohnten Haus. Und es war eben gerade der Schlussstein, der mir fehlte, denn nichts an mir konnte noch von Nutzen sein. Und doch bin ich der Gleiche, sagte ich mir, der die gleichen Dinge weiß, der an den gleichen Erinnerungen teilhat, Zuschauer des gleichen Schauspiels, aber fortan versunken in nutzloser Zusammenhanglosigkeit. So ist auch die Basilika, mag sie noch so herrlich emporragen, nur noch eine Summe von Steinen, wenn es niemanden gibt, der sie in ihrer Ganzheit betrachtet, der ihr Schweigen genießt, der daraus in inniger Herzensversenkung ihre wahre Bedeutung erfährt. So stand es mit mir und meiner Weisheit und den Wahrnehmungen meiner Sinne und meinen Erinnerungen. Ich war Summe von Ähren und nicht mehr Garbe. Und ich lernte die Langeweile kennen, die vor allem in der Gottesferne besteht. Warum zwingst du mich, Herr, diese Wüste zu durchqueren? Ich plage mich inmitten der Dornen. Es bedarf nur eines Zeichens von Dir, damit die Wüste sich verwandelt, damit der blonde Sand und der Horizont und der große, stille Wind nicht mehr nur eine unzusammenhängende Summe, sondern ein weites Reich bilden, an dem ich mich begeistere und durch das hindurch ich Dich erkenne. Und ich wurde gewahr, dass sich Gott offenbar an seiner Abwesenheit ablesen lässt, wenn er sich zurückzieht. Denn für den Seemann ist er der Sinn des Meeres. Und für den Gatten der Sinn der Liebe. Es gibt jedoch Stunden, in denen der Seemann sich fragt: Wozu das Meer? Und der Gatte: Wozu die Liebe? Und sie betätigen sich in der Langeweile. Nichts fehlt ihnen, außer dem göttlichen Knoten, der die Dinge verknüpft. Und so fehlt ihnen alles. 26 Deine Widersprüche gehören zur Häutung wie deine Schmerzen und dein Elend. Es kracht in dir und zerreißt dich. Und dein Schweigen ist das Schweigen des Weizenkorns in der Erde, wo es nur fault, um zu werden. Und deine Unfruchtbarkeit ist die Unfruchtbarkeit der Schmetterlingspuppe. Aber du wirst wieder geboren werden, mit Flügeln geschmückt. Auf dem Gipfel des Berges, wo deine Probleme gelöst sind, wirst du sagen: „Warum habe ich das nicht gleich verstanden?“ Als ob es anfangs etwas zu verstehen gegeben hätte. 27 Du wirst kein Zeichen empfangen, denn das Merkmal der Gottheit, von der du ein Zeichen verlangst, ist eben das Schweigen. Und die Steine wissen nichts vom Tempel, den sie bilden, und können nichts wissen. So weiß auch ein Stück Rinde nichts vom Baum, den es mit anderen bildet. So weiß der Baum selbst oder irgendeine Behausung nichts vom Landgut, das sie mit anderen bilden. So weißt du nichts von Gott. Denn dazu müsste der Tempel sich dem Stein oder der Baum der Rinde offenbaren, was keinen Sinn hat, denn es gibt für den Stein keine Sprache, womit er ihn empfangen könnte. Der Stein hat keine Hoffnung, etwas anderes zu sein als Stein. Aber durch das Zusammenwirken fügt sich einer zum anderen und wird zum Tempel. 28 Allein der Zwang ist gültig, der dich dem Tempel unterwirft gemäß deiner Bedeutung, denn die Steine sind nicht frei, dorthin zu gehen, wohin es ihnen beliebt, oder es gibt dann nichts, dem sie Bedeutung verleihen und von dem sie Bedeutung empfangen könnten. Dieser Zwang besteht darin, dass er dich der Trompete unterwirft, wenn sie etwas in dir weckt und entfaltet, das größer ist als du selber. Der Polizist bewirkt nur, dass du den anderen ähnlich wirst. Wie könnte er darüber hinaussehen? Die Ordnung ist für ihn die Ordnung des Museums, in dem man alles nach der Schnur ausrichtet. Ich aber stifte nicht dadurch die Einheit des Reiches, dass du deinem Nachbarn ähnlich wirst. Vielmehr dadurch, dass dein Nachbar und du selbst, wie die Säule und die Statue im Tempel, ihr Dasein auf das Reich gründen, das allein eine Einheit bildet. Mein Zwang ist Zeremoniell der Liebe. 29 Wenn deine Liebe nicht hoffen kann, Gehör zu finden, sollst du sie verschweigen. Sie kann in dir reifen, wenn Schweigen herrscht. Liebe, die betet, ist schön, aber Liebe, die fleht, ist Lakaienliebe. 30 Wenn deine Liebe sich an der Unbedingtheit der Dinge stößt und etwa die undurchdringliche Mauer eines Klosters oder die Verbannung überwinden muss, so danke Gott, wenn du bei ihr [deiner Angebeteten, Anm.] Gegenliebe findest, obwohl sie dem Anschein nach taub und blind ist. Denn es ist dann ein Nachtlicht für dich angezündet in der Welt. Und es kümmert mich wenig, dass du es nicht benutzen kannst. Denn einer, der in der Wüste stirbt, ist reich durch ein Haus in der Ferne, mag er auch sterben. Wenn ich große Seelen forme und die vollkommenste auserwähle, um sie im Schweigen einzumauern, scheint dir niemand etwas dadurch zu empfangen. Und doch wird durch sie mein ganzes Reich geadelt. Wenn einer in der Ferne vorübergeht, sinkt er in die Knie. Und es entstehen die Zeichen und Wunder. Wenn daher Liebe zu dir besteht, mag sie auch nutzlos sein, und du deinerseits wiederliebst, wirst du im Licht wandeln. Denn groß ist das Gebet, auf das allein das Schweigen antwortet, wenn es zutrifft, dass der Gott existiert. 31 Wenn deine Liebe Gehör findet und Arme sich für dich öffnen, so bete zu Gott, er möge diese Liebe vor der Fäulnis bewahren, denn ich bange um die überglücklichen Herzen. 32 Wenn es sich um Liebesdinge handelt, kannst du „sie“ sagen, um damit deine Gefühle zu übertragen, da du glaubst, es handle sich um die Geliebte, während es in Wahrheit um den Sinn der Dinge geht, und sie nur da ist, um dir den göttlichen Knoten zu bezeichnen, der die Dinge verknüpft: mit dem Gott, der den Sinn deines Lebens bedeutet und deiner Meinung nach deine Begeisterung verdient, während diese in Wahrheit den Zweck erfüllt, dich so und nicht anders an der Welt teilhaben zu lassen. Und dich plötzlich mit solcher Weite zu erfüllen, dass dir die Seele widerhallt gleich den Muscheln des Meeres. Denn es geht hier um eine Erscheinung, die zu den Dingen hinzutritt und sie beherrscht, und so steht sie klar vor deinem Geist und deinem Herzen. Und die, wenn sie sich auch deinem Verstand entzieht, dich besser oder härter oder sicherer als irgendetwas Greifbares lenkt und die dich schweigsam macht. 33 Ihr seid nicht einer mit dem anderen verbunden, sondern durch die verschiedenen Knoten, die die Dinge verknüpfen, und es kommt darauf an, dass es für alle die gleichen sind. Wenn ich sage „gleich“, so meine ich nicht, dass es jene Ordnung zu schaffen gilt, die aus Mangel und Tod besteht wie bei aufgereihten Steinen oder im Gleichschritt marschierenden Soldaten. Ich sage, dass ich euch darin geübt habe, die gleichen Gesichter zu erkennen und so die gleichen Regungen der Liebe zu erfahren. Denn ich weiß jetzt, dass Liebe Wiedererkennen heißt und dass dies die Erkenntnis der Gesichter bedeutet, die sich durch die Dinge hindurch ablesen lassen. Die Liebe ist nichts anderes als die Erkenntnis der Götter. Sobald dir das Landgut, das Bildwerk, das Gedicht, das Reich, die Frau oder Gott durch das Mitleid mit den Menschen für einen Augenblick geschenkt werden, sodass du sie in ihrer Einheit erfassest, heiße ich jenes Fenster, das sich dann in dir geöffnet hat, Liebe. Und ich heiße es Tod deiner Liebe, wenn es für dich nur noch eine Anhäufung gibt. Und doch hat sich all das nicht verändert, was dir durch die Sinne dargeboten worden ist. 34 Ich habe das Echo in dir vorbereitet, das durch das Gedicht in dir widerhallen wird. Und das Gedicht erleuchtet dich, das einen anderen gähnen ließe. Ich habe dir einen Hunger vorbereitet, der sich nicht kennt, und ein Verlangen, das für dich noch keinen Namen hat. Es ist ein Ganzes, das aus Wegen, aus Gefügen, aus Architektur besteht. Der Gott, der ihm bestimmt ist, wird es mit einem Schlag erwecken, und all diese Wege werden licht werden. Du freilich weißt nicht das Geringste davon, denn wenn du es kennen und suchen würdest, hieße das, dass es schon einen Namen trüge. Und dass du es schon gefunden hättest. 35 Die wahre Liebe verausgabt sich nicht. Je mehr du gibst, umso mehr verbleibt dir. Und wenn du dich anschickst, aus dem wahren Brunnen zu schöpfen, spendet er umso mehr, je mehr du schöpfst. 36 Ich werde dich besuchen. Und ich brauche mich dir nicht zu erkennen geben. Ich bin der Knoten, der das Reich zusammenhält. Ich bin der Schlussstein einer bestimmten Freude an den Dingen. Und ich verknüpfe dich. Und das ist das Ende deiner Einsamkeit. Wie solltest du mir nicht folgen? Ich bin ja nichts anderes mehr als du selbst. So ist es mit der Musik, die ein bestimmtes Gefüge in dir aufbaut. Durch sie wirst du entflammt. Die Musik ist weder wahr noch falsch. Du selber begannst zu werden. Ich will dich nicht verlassen sehen in deiner Vollkommenheit. Bitter und verlassen. Ich werde die Inbrunst in dir wecken, die nur gibt und niemals ausplündert, denn die Inbrunst verlangt weder Eigentum noch Gegenwart. Deshalb habe ich für dich, der du allein bist, dieses Gebet ersonnen: 37 Erbarme dich meiner, o Herr, denn meine Einsamkeit lastet auf mir. Es gibt nichts, auf das ich wartete. Hier bin ich in dieser Kammer, in der nichts zu mir spricht. Und doch wünsche ich nicht die Gegenwart der Menschen herbei, denn ich weiß mich noch verlorener, wenn ich in der Menge untertauche. Aber irgendeine andere, die mir gleicht und die sich in eben solch einer Kammer befindet und sich doch glücklich fühlt, wenn die Menschen, denen ihre Zärtlichkeit gehört, anderswo im Hause geschäftig sind. Sie hört sie nicht und sie sieht sie nicht. Sie empfängt nichts von ihnen im Augenblick. Aber um glücklich zu sein, genügt es ihr zu wissen, dass ihr Haus bewohnt ist. Herr, auch ich erwarte nicht etwas, das ich sehen oder hören könnte. Deine Wunder sind nicht für die Sinne. Doch um mich zu heilen, genügt es, wenn Du meinen Geist erleuchtest, sodass ich mein Heim verstehe. Wenn der Wanderer in seiner Wüste einem bewohnten Haus angehört, so freut er sich dessen, obwohl er weiß, dass es am anderen Ende der Welt liegt. Keine Entfernung hält ihn davon ab, sich von ihm nähren zu lassen, und wenn er stirbt, stirbt er in der Liebe … Ich erwarte also nicht einmal, Herr, dass mein Heim mir nahe sei. Sieh den Spaziergänger, dem in der Menge ein Gesicht auffällt. Er verwandelt sich, selbst wenn das Gesicht nicht für ihn bestimmt ist. So geht es jenem Soldaten, der in die Königin verliebt ist: Er wird Soldat einer Königin. Ich erwarte also nicht einmal, Herr, dass jenes Heim mir verheißen sei. Auf den weiten Meeren gibt es glühende Schicksale, die sich einer gar nicht vorhandenen Insel geweiht haben. Sie singen, während sie auf dem Schiff sind, die Hymne der Insel und fühlen sich glücklich dabei. Nicht die Insel ist es, die sie glücklich macht, sondern der Gesang. Ich erwarte also nicht einmal, Herr, dass jenes Heim überhaupt bestehe … Die Einsamkeit, Herr, ist nur Frucht des Geistes, wenn er krank ist. Er bewohnt nur ein Vaterland, das der Sinn der Dinge ist. So ist es mit dem Tempel, wenn er Sinn der Steine ist. Nur für diesen Raum hat der Geist Flügel. Er freut sich nicht über die Dinge, sondern allein über das Gesicht, das man durch sie hindurch erkennt und das sie miteinander verknüpft. Gib nur, dass ich es abzulesen lerne. Dann, Herr, wird meine Einsamkeit überstanden sein. 38 Um die Liebe zu mir zu stiften, lasse ich jemanden in dir entstehen, der für mich steht. Ich werde dir nicht mein Leiden erzählen, denn es würde dir Widerwillen gegen mich einflößen. Ich werde dir keine Vorwürfe machen: Sie würden dich mit Recht erbittern. Ich werde dir nicht die Gründe sagen, weshalb du mich lieben sollst, denn du hast keine Gründe. Der Grund zu lieben ist die Liebe selber. 39 Die dort unter meinen Augen in der Stadt leben, wissen wenig von der Stadt. Sie halten sich für Architekten, Maurer, Polizisten, Priester, Leineweber; sie glauben, dass sie für ihren Vorteil oder ihr Glück da sind und empfinden nicht ihre Liebe, so wie einer nicht seine Liebe empfindet, der im Haus geschäftig ist und ganz eingenommen ist von den Sorgen des Tages. Der Tag gehört den häuslichen Szenen. Des Nachts aber findet einer, der sich gestritten hat, die Liebe wieder. Denn die Liebe ist größer als dieser Wind der Worte. Die Liebe denkt man nicht. Die Liebe ist. 40 Ich verdamme deine Eitelkeit, nicht aber deinen Stolz, denn wenn du besser tanztest als ein anderer, warum solltest du dich verleugnen, indem du dich vor dem schlechten Tänzer demütigst? Es gibt eine Form des Stolzes, die Liebe zum gut getanzten Tanz ist. Doch die Liebe zum Tanz ist nicht Liebe zu dir, der du tanzt. Du erhältst deinen Sinn durch das Werk; es ist nicht das Werk, das sich mit dir brüstet. Und du wirst dich niemals vollenden, es sei denn im Tod. Nur die Eitle ist mit sich zufrieden, hält inne auf ihrem Weg, um sich zu betrachten, und vertieft sich in die Anbetung seiner selbst. Sie kann nichts von dir empfangen außer deinen Applaus. Wir aber verachten solche Gelüste, wir ewigen Nomaden auf dem Weg zu Gott, denn nichts kann uns genügen. Die Eitle ist in sich selber stehen geblieben, denn sie glaubt, dass man schon vor der Todesstunde ein Gesicht angenommen hat. Deshalb könnte sie nichts mehr empfangen noch geben, genau wie die Toten. Die Demut des Herzens verlangt nicht, dass du dich demütigen, sondern dass du dich öffnen sollst. Das ist der Schlüssel des Austauschs. Nur dann kannst du geben und empfangen. Und ich kann nicht das eine vom anderen unterscheiden, diese beiden Worte sind für den gleichen Weg bestimmt. Demut ist nicht Unterwerfung unter die Menschen, sondern unter Gott. So wie der Stein nicht den Steinen, sondern dem Tempel unterworfen ist. Wenn du dienst, dienst du dem Werk. Die Mutter ist demütig angesichts des Kindes und der Gärtner vor der Rose. Im Lauf deines Lebens bist du der Frau begegnet, die sich selbst anbetet. Was könnte sie von der Liebe empfangen? Alles, sogar deine Wiedersehensfreude, wird ihr zur Huldigung. Die Huldigung aber ist umso wertvoller, je kostspieliger sie ist. Diese Frau würde deine Verzweiflung noch mehr genießen. Sie verzehrt, ohne sich zu nähren. Sie ergreift von dir Besitz, um dich, ihr zu Ehren, zu verbrennen. Sie gleicht einem Krematorium. In ihrem Geiz bereichert sie sich durch eitle Beute, da sie in solch einer Anhäufung seine Freude zu finden glaubt. Doch sie häuft nur Asche auf. Denn der wahre Gebrauch deiner Geschenke war der Weg des Einen zum Anderen und nicht die Beute. Da sie in deinen Geschenken ein Pfand sieht, wird sie sich hüten, dir ihrerseits etwas zu schenken. Da sie keine Aufschwünge kennt, die dich beseligen würden, wird ihre falsche Zurückhaltung dir einzureden suchen, dass die Vereinigung in der Liebe Zeichen überflüssig mache. Das ist ein Beweis für die Unfähigkeit zu lieben, nicht für die Größe der Liebe. Wenn der Bildhauer den Lehm verachtet, knetet er den Wind. Wenn deine Liebe, unter dem Vorwand, so zum Kern vorzudringen, die Zeichen der Liebe verachtet, ist sie nur noch ein Wörterbuch. Ich will von dir Wünsche und Geschenke und Liebesbezeigungen. Könntest du das Landgut lieben, wenn du der Reihe nach die Mühle, die Herde, das Haus als überflüssig ausschlössest, weil sie dir absonderlich erscheinen? Wie könnte die Liebe entstehen, die ein Gesicht ist, das du durch ein Fadengespinst abliest, wenn es dieses nicht gibt? Denn es gibt keine Kathedrale ohne das Zeremoniell der Steine. Und es gibt keine Liebe ohne das Zeremoniell, das für die Liebe bestimmt ist. Das Wesen des Baumes erreiche ich nur, wenn er langsam die Erde durchdrungen hat, wie es dem Zeremoniell der Wurzeln, des Stammes und der Zweige gemäß ist. Dann ist er eine Einheit: dieser Baum und kein anderer. Jene Frau aber verschmäht den Austausch, durch den sie erst geboren würde. Sie geht in der Liebe auf Beute aus. Und solch eine Liebe ist ohne Sinn. Sie glaubt, die Liebe sei ein Geschenk, das man in sich wegschließen könne. Wenn du sie liebst, besagt das, dass sie dich gewonnen hat. Sie verschließt dich in sich, da sie dadurch reicher zu werden glaubt. Nun ist aber die Liebe kein Schatz, den man erhaschen könnte, sondern eine Verpflichtung zwischen dem Einen und dem Anderen; sondern Ertrag eines freiwillig übernommenen Zeremoniells; sondern Gesicht der Wege des Austauschs. Jene Frau wird niemals geboren werden. Denn geboren wirst du nur in einem Netz von Bindungen. Sie wird ein verkümmertes Samenkorn bleiben, dessen Vermögen ungenutzt bleibt, vertrocknet an Seele und Herz. Sie wird traurig altern inmitten ihrer sinnlosen Eroberungen. Denn du kannst dir nichts zuteilen. Du bist kein Kasten. Du bist die Verknüpfung deiner Vielfalt. So auch der Tempel, der der Sinn der Steine ist. Wende dich ab von ihr. Du kannst nicht hoffen, sie zu verschönern oder zu bereichern. Sag ihr: Du hast die Schritte gezählt, die ich dir entgegenging, da du dich nicht von meiner Liebe, sondern von der Huldigung meiner Liebe nährtest. Du hast den Sinn meiner Fürsorge verkannt. So werde ich mich also von dir abwenden, um allein die zu ehren, die demütig ist und durch meine Liebe erleuchtet wird. Nur der Frau werde ich wachsen helfen, die wirklich durch meine Liebe wächst. So wie ich den Kranken pflege, um ihn zu heilen, nicht um ihm zu schmeicheln: Ich bedarf eines Weges, nicht einer Mauer. Du strebtest nicht nach Liebe, sondern nach Anbetung. Du hast meinen Weg versperrt. Du hast dich aufgestellt auf meiner Straße wie ein Götzenbild. Ich habe mit dieser Begegnung nichts zu schaffen. Ich bin weder ein Götzenbild, dem man dient, noch ein Sklave, der zum Dienen da ist. Wer mich als sein Eigentum fordert, von dem ich sage ich mich los. Ich bin keine Sache, die man als Pfand abgegeben hat, und niemand hat eine Forderung gegen mich. Desgleichen habe ich von niemandem etwas zu fordern. Ich empfange ständig von der Frau, die mich liebt. Wenn ich jener begegne, die errötet und stammelt und die der Geschenke bedarf, um lächeln zu lernen, denn sie bedeuten ihr Meereswind und nicht Beute, dann werde ich mich zum Weg machen, der sie erlöst. Ich werde mich nicht erniedrigen und auch sie nicht in der Liebe erniedrigen. Ich werde um sie sein wie der Raum und in ihr sein wie die Zeit. Ich werde ihr sagen: „Beeile dich nicht, mich kennenzulernen, denn es gibt nichts an mir, das sich fassen ließe. Ich bin Raum und Zeit, oder Werden.“ Wenn sie meiner bedarf, wie das Samenkorn der Erde bedarf, um sich zum Baum zu entfalten, werde ich sie nicht durch meine Überheblichkeit ersticken. Ich werde sie ebenso wenig um ihrer selbst willen ehren. Ich werde sie mit den Klauen der Liebe fest umkrallen. Meine Liebe wird ein Adler mit mächtigen Flügeln sein. Und nicht mich wird sie entdecken, sondern durch mich die Täler, die Berge, die Sterne, die Götter. Es geht nicht um mich – ich bin nur der Überbringer. Es geht nicht um dich – du bist nur ein Pfad zu den Wiesen bei Tageserwachen. Es geht nicht um uns – wir sind zusammen nur Durchgang für Gott, der unsere Generation eine Weile benutzt und sie verbraucht. 41 Ich werde mich dir im Schweigen nahen. Ich werde eine unsichtbare Naht sein. Ich werde nichts an den Baustoffen verändern, nicht einmal ihren Platz, aber ich werde ihnen ihren Sinn wiedergeben als unsichtbarer Geliebter, der zum Werden verhilft. 42 Du bist ein Musikinstrument ohne Musiker und wunderst dich über die Töne, die du hervorbringst. So habe ich gesehen, wie sich das Kind damit vergnügte, die Saiten zu zupfen, und über die Macht seiner Hände lachte. Doch auf die Töne kommt es mir nicht an; ich will, dass du dich mir mitteilst. Du aber hast nichts mitzuteilen, denn du bist nicht, da du dein Werden vernachlässigt hast. Und so zupfst du deine Saiten, wie der Zufall es will, und wartest auf den Ton, der noch absonderlicher ist als die anderen. Denn die Hoffnung lässt dir keine Ruhe, du könntest unterwegs das Werk finden [als ob es eine Frucht wäre, die man außerhalb des eigenen Ichs findet] und so dein Gedicht einfangen. Ich aber will, dass du als ein gut gepflanzter Same ringsum für dein Gedicht die Säfte aus dem Boden ziehen sollst. Ich will, dass du eine geformte Seele habest, die schon für die Liebe bereit ist, statt im Abendwind nach irgendeinem Gesicht zu suchen, das dich gefangen nehmen könnte, denn es ist nichts in dir, was sich gefangen nehmen ließe. So preist du die Liebe. So preist du die Gerechtigkeit. Nicht die gerechten Dinge. Und du wirst im Einzelfall ohne weiteres ungerecht verfahren, um ihr zu dienen. So preist du das Mitleid, aber im Einzelfall wirst du ohne weiteres grausam sein, um ihm zu dienen. Du preist die Freiheit, und du wirst alle in deine Gefängnisse stopfen, die nicht dein Lied singen. Ich aber kenne gerechte Menschen, nicht die Gerechtigkeit. Freie Menschen und nicht die Freiheit. Menschen, die durch die Liebe beseelt werden, und nicht die Liebe. Desgleichen kenne ich weder die Schönheit noch das Glück, sondern nur glückliche Menschen und schöne Dinge. Doch zunächst galt es, zu wirken und zu bauen und zu lernen und zu erschaffen. 43 Ich bewirke, dass aus einem Bettler – der dem Anschein nach einem König gleicht, während er den Palast oder das Meer oder noch größeres als das Meer, die Milchstraße etwa, betrachtet und doch aus diesem verdrießlichen Blick auf die Weite nichts für sich zu gewinnen vermag – ein wirklicher König wird, obwohl sich äußerlich nichts verändert hat. Und es gibt ja auch äußerlich nichts zu verändern, da Herr und Bettler einander gleich sind. Auch der Liebende und einer, der seine verlorene Liebe beweint, sind einander gleich, wenn sie im Abendfrieden auf der Schwelle ihres Hauses sitzen. Um also aus dir, der du dem einen von ihnen gleichst, den anderen hervorzuholen, braucht man dir nicht irgendetwas Sichtbares und Stoffliches zu verschaffen oder dich in irgendeiner Weise zu verändern. Es genügt, wenn ich dich die Sprache lehre, die es dir möglich macht, in dem, was um dich und in dir ist, ein neues Gesicht zu lesen, das dein Herz entflammt; so geschieht es, wenn du verdrießlich bist, mit einigen Figuren aus grobem Holz, die von ungefähr über ein Brett verteilt sind, die aber, wenn ich dich in der Kunst des Schachspiels unterwiesen habe, ihr Problem auf dich ausstrahlen werden. Deshalb betrachte ich die Menschen im Schweigen meiner Liebe, ohne ihnen ihre Langeweile, die nicht von ihnen selber, sondern von ihrer Sprache herrührt, vorzuwerfen, denn ich weiß, dass der siegreiche König, der den Wüstenwind einatmet, und der Bettler, der im gleichen geflügelten Fluss seinen Durst löscht, nur durch eine Sprache voneinander unterschieden sind; dass ich aber ungerecht wäre, wenn ich dem Bettler einen Vorwurf machen wollte – ohne ihn zuvor aus sich selber hervorgeholt zu haben –, weil er in seinem Sieg nicht die Gefühle eines siegreichen Königs empfindet. Ich schenke die Schlüssel der Weite. 44 Du wartest auf die Erscheinung, die von draußen kommen soll, wie ein dir gleichender Erzengel. Hättest du von seinem Besuch mehr Gewinn gehabt als vom Besuch deines Nachbarn? Ich habe bemerkt, dass einer nicht mehr derselbe ist, der sich auf dem Weg zum kranken Kind, zum leeren Haus, zur Geliebten befindet, obwohl er im Augenblick nicht verändert zu sein scheint. So mache ich mich zum Stelldichein oder zum Ufer mit Hilfe der bestehenden Dinge, und dann ist alles verwandelt. Ich mache mich zum Korn über das Pflügen hinaus, zum Menschen über das Kind hinaus, zum Brunnen über die Wüste hinaus, zum Diamanten über den Schweiß hinaus. Ich zwinge dich, in dir ein Haus zu bauen. Wenn das Haus fertig ist, wird auch der Bewohner kommen, der dein Herz entflammt. 45 Du musst sterben, um dich hinzugeben. Du musst überdauern nach Art der alten Frauen, die sich die Augen abnutzen, wenn sie die Kirchengewänder nähen, mit denen sie ihren Gott bekleiden. Sie werden dadurch selber zum Gewand eines Gottes. Und durch das Wunder ihrer Finger wird die Hülle aus Leinen zum Gebet. Denn du bist nichts als Durchgang und kannst nur von dem wahrhaft leben, was du verwandelst. Der Baum verwandelt die Erde in Zweige. Die Biene die Blüte in Honig. Und dein Pflügen die schwarze Erde in das Flammenmeer des Getreides. Es kommt mir daher vor allem darauf an, dass dir dein Gott wirklicher ist als das Brot, in das deine Zähne beißen. Dann wird er dich trunken machen, bis du dich opferst und dich dadurch in Liebe vermählst. 46 Ich begann über die Bejahung des Todes nachzudenken. Denn die Logiker, Historiker und Kritiker haben die Baustoffe, die für deine Basiliken bestimmt sind, um ihrer selbst willen gefeiert [und du hast geglaubt, dass es sich um sie handle, während doch der Henkel einer silbernen Kanne, sofern sein Schwung geglückt erscheint, mehr wert ist als eine ganze Kanne aus purem Gold und dir Geist und Herz mehr erquickt]. Dann glaubst du also, weil du über die Richtung deiner Wünsche schlecht unterrichtet bist, dass du dein Glück aus dem Besitz gewönnest, und so häufst du atemlos Steine aufeinander, die anderswo Steine der Basilika gewesen wären und die du zur Voraussetzung deines Glücks machst. Hingegen erwärmt ein anderer sich Geist und Herz durch einen einzigen Stein, wenn er daraus das Antlitz seines Gottes meißelt. Du gleichst dem Spieler, der keine Ahnung vom Schachspielen hat und daher sein Vergnügen darin sucht, Goldstücke und Elfenbein anzuhäufen, und nichts als Langeweile dabei empfindet, während der andere, dem die Göttlichkeit der Regeln den Sinn für das feinsinnige Spiel weckte, aus einfachen und rohen Holzstücken sein Licht gewinnt. Denn da du alle abzuzählen begehrst, hältst du dich an die Baustoffe und nicht an das Antlitz, das sie bilden und das es vor allem zu erkennen gilt. Daraus folgt notwendigerweise, dass du zunächst am Leben hängst, als sei es eine Anhäufung von Tagen. Und doch wärest du töricht, wolltest du bedauern, dass der Tempel mit seinen reinen Linien nicht noch mehr Steine versammelt. Rechne mir also nicht, um mich zu blenden, die Zahl der Steine deines Hauses vor, der Weiden deines Landgutes, der Tiere deiner Herde, ja nicht einmal deiner Liebesabenteuer. Mich kümmert das alles wenig. Ich möchte erfahren, ob dein Haus gut gebaut ist, ob du die Pflichten deines Landguts mit Inbrunst erfüllst, und ob am Abend nach vollbrachter Arbeit das Mahl heiter verläuft. Und ich möchte erfahren, welche Liebe du aufgebaut hast, und ob du dein Dasein gegen etwas austauschtest, das dauerhafter ist als du selbst. Ich möchte, dass du geworden bist. Ich möchte in dem lesen, was du hervorgebracht hast, nicht in deinen ungenutzten Baustoffen, aus denen du deinen eitlen Ruhm herleitest. 47 Der Wunsch, die Sehnsucht, die Schwermut, die nach Liebe streben, sind mehr wert als der Frieden des Herdenviehs, dem die Liebe fremd ist. So wie du dich inmitten der Wüste, wo dich Durst und an Dornen quälen, lieber nach Brunnen sehnst, statt sie zu vergessen. Denn hierin liegt das Geheimnis, dessen Verständnis mir vergönnt wurde. So wie du das begründest, womit du dich beschäftigst – magst du nun dafür oder dagegen kämpfen –, genauso wirst du durch eben das erleuchtet, genährt und gestärkt, was du ersehnst, herbeiwünschst oder beweinst. Wenn ich dir die Voraussetzungen der Liebe zerstörte, um dich nicht unter ihr leiden zu lassen, was hätte ich dir dann geschenkt? Ist eine Wüste ohne Brunnen für jene angenehmer, die die Spur verloren haben und an Durst sterben? Und du sollst wissen, dass der Brunnen, wenn er richtig besungen wurde und in dein Herz eingegangen ist, dir einmal, wenn du dich schon dem Sand vermählt hast und dich anschickst, deine Hülle abzulegen, ein ruhigeres Wasser spenden wird, das nicht von den Dingen, sondern vom Sinn der Dinge herrührt; und ich werde dir noch ein Lächeln zu entlocken wissen, wenn ich dir vom sanften Gesang der Brunnen erzähle. Wie solltest du mir nicht folgen? Ich bin dein Sinn. Mit einer Sehnsucht verzaubere ich deinen Sand. Ich öffne dir die Liebe. Aus einem Duft bilde ich ein Reich. 48 Um die Liebe zu stiften, kenne ich kein anderes Mittel, als dich der Liebe zu opfern. 49 Die Liebe, die sich zur Schau stellt, ist gemeine Liebe. Der Liebende sinnt nach über seinen Gott und verkehrt mit ihm im Schweigen. Der Zweig hat seine Wurzel gefunden. Die Lippe hat ihre Brust gefunden. Das Herz gibt sich dem Gebet hin. Die Liebe schweigt. 50 Wenn einer sich beklagt, dass die Welt ihn verfehlt habe, so heißt das, dass er die Welt verfehlt hat. Wenn einer sich beklagt, dass ihn die Liebe nicht glücklich gemacht habe, so heißt das, dass er sich über die Liebe täuscht: Die Liebe ist kein Geschenk, das man empfängt. An Gelegenheit zu lieben mangelt es dir nicht. Du kannst Soldat einer Königin werden. Die Königin braucht dich nicht einmal zu kennen, um dich glücklich zu machen. Ich habe gesehen, wie mein Mathematiker in die Sterne verliebt war. Er verwandelte einen Lichtstrahl in ein Gesetz für den Geist. Er war Gefährt, Weg und Durchgang. Er war Biene eines blühenden Sterns, aus dem er seinen Honig gewann. Ich habe gesehen, wie er starb, glücklich um einiger Zeichen und Figuren willen, in die er sich ausgetauscht hatte. So war es auch mit dem Gärtner meines Gartens, der eine neue Rose zum Blühen brachte. Ein Mathematiker kann den Sternen fehlen. Ein Gärtner kann dem Garten fehlen. Aber es fehlt dir weder an Sternen noch an Gärten noch an runden Kieselsteinen auf den Lippen der Meere. Sage mir nicht, du seiest arm. 51 Du kannst nicht hoffen, mich auf einem Fehler zu ertappen oder mich wirklich in der entscheidenden Frage zu widerlegen. Ich bin Ursprung und nicht Folge. Wenig kümmern mich die Irrtümer, die du mir vorwirfst. Die Wahrheit ruht jenseits davon. Die Worte kleiden sie schlecht, und jedes von ihnen unterliegt der Kritik. Ich bin ganz einfach. Wenn ich einen wirklichen Körper bekleidet habe, brauche ich nicht besorgt zu sein um die Wahrheit der Falten des Kleides. Ich kenne keine Logik der Falten eines Kleides. Aber dieser Faltenwurf und kein anderer lässt mein Herz höher schlagen und erweckt mein Verlangen. 52 Die Liebe ist vor allem ein Lauschen im Schweigen. Lieben heißt nachsinnen. Es kommt die Stunde, in der du dich mit deiner Liebsten vereinigst, was nicht auf dieser oder jener Geste, nicht auf dieser oder jener Einzelheit des Gesichtes oder diesem oder jenem Wort, das sie ausspricht, sondern auf ihr beruht. Es kommt die Stunde, da allein ihr Name genügt als ein Gebet, denn du hast nichts hinzuzufügen. Es kommt die Stunde, in der du nichts mehr verlangst. Weder die Lippen noch das Lächeln, noch den zärtlichen Arm, noch den Hauch ihrer Gegenwart. Denn es genügt dir, dass sie ist. Es kommt die Stunde, in der du dich nicht mehr zu fragen brauchst, was jener Schritt, jenes Wort, jene Entscheidung, jene Weigerung, jenes Schweigen bedeuten, um sie zu verstehen. Weil sie ja da ist. Du wolltest vor allem aufgenommen sein im Schweigen, nicht um dieser oder jener Geste, dieser oder jener Tugend, dieses oder jenes Wortes willen, sondern in deinem Elend, so wie du bist. 53 O Herr, ich habe mich im Weg geirrt. Ich habe mich unter den Frauen abgehastet wie auf einer Reise ohne Ziel. Ich habe mich unter ihnen abgemüht wie in einer Wüste ohne Horizont auf der Suche nach der Oase, die nicht in der Liebe, sondern jenseits von ihr zu finden ist. Ich habe einen Schatz gesucht, der dort versteckt war, wie ein Ding, das es unter anderen Dingen zu entdecken gäbe. Ich habe mich über ihren kurzen Atem gebeugt wie ein Ruderer. Und ich ging nirgendwohin. Ich habe mit den Augen ihre Vollkommenheit abgemessen, ich kannte die Anmut der Gelenke und den Henkel des Ellenbogens, den man beim Trinken halten will. Ich litt an einer Angst, die eine Richtung hatte. Ich habe einen Durst verspürt, gegen den es ein Heilmittel gab. Doch da ich mich im Weg geirrt hatte, sah ich Deiner Wahrheit ins Gesicht, ohne sie zu verstehen. Ich glich jenem Narren, der nachts inmitten der Ruinen auftaucht, ausgerüstet mit Schaufel, Spitzhacke und Meißel. Und so trägt er die Mauern ab. Und er dreht die Steine um und beklopft die schweren Steinplatten. Er plagt sich ab, von einem düsteren Eifer erfasst, denn er täuscht sich, Herr, er sucht einen Schatz, der schon seit Jahrhunderten in dieser geheimen Zelle bereitsteht wie eine Perle in der Muschel: als Jungbrunnen für den Greis, als Unterpfand des Reichtums für den Geizhals, als Unterpfand der Liebe für den Verliebten, als Unterpfand des Stolzes für den Stolzen und des Ruhmes für den Ruhmsüchtigen – und doch ist er nur Asche und Eitelkeit, denn es gibt keine Frucht, die nicht von einem Baum stammt, keine Freude, die du nicht erarbeitet hast. Unfruchtbar ist es, inmitten der Steine nach einem Stein zu suchen, der dich mehr begeistern soll als die anderen. Aus seiner mühevollen Arbeit im Bauch der Ruinen wird er weder Ruhm noch Reichtum noch Liebe ausgraben können. Gleich jenem Narren also, der des Nachts hingeht, um unfruchtbaren Boden umzuhacken, habe ich nichts in der Wollust gefunden, das anders gewesen wäre als dies so unnütze Vergnügen des Geizigen am Geld. Ich habe nur mich selber darin gefunden. Ich habe nur mit mir zu tun, o Herr, und der Widerhall meiner eigenen Lust ermüdet mich. Ich möchte das Zeremoniell der Liebe aufbauen, damit mich das Fest anderswohin führe. Denn nichts von dem, was ich suche, und wonach ich dürste und wonach die Menschen dürsten, befindet sich auf der Stufe ihrer Baustoffe. Und der geht in die Irre, der unter den Steinen sucht, was nicht ihrem Wesen entspricht, wo er sie doch nutzen könnte, um seine Basilika damit aufzubauen, denn seine Freude kann er nicht aus einem Stein unter anderen Steinen, sondern nur aus einem bestimmten Zeremoniell der Steine gewinnen, sobald die Kathedrale gebaut ist. Und ich zerstöre den Einklang einer Frau, wenn ich nicht durch sie hindurch lese. O Herr, wenn ich diese meine Frau nackt dort schlafen sehe, so wird es mich erfreuen, wenn sie schön ist und feine Gelenke hat, und warum sollte ich mir meinen Lohn nicht holen? Ich aber habe Deine Wahrheit verstanden. Es kommt darauf an, dass die Schlafende, die ich bald dadurch aufwecken werde, dass ich nur meinen Schatten über sie neige, nicht die Mauer bedeutet, an die ich stoße, sondern die Tür, die anderswohin führt – und dass ich sie nicht in verschiedene Bestandteile aufsplittere, um den unerreichbaren Schatz zu finden, sondern sie wohlgefügt und als Einheit berge im Schweigen meiner Liebe. Und weshalb sollte ich getäuscht werden? Gewiss ist die Frau enttäuscht, die ein Schmuckstück empfängt. Es gibt einen Smaragd, der schöner ist als dein Opal. Es gibt einen Diamanten, der schöner ist als dein Smaragd. Es gibt den Diamanten des Königs, der schöner ist als alle anderen. Nur dann habe ich es mit einem Gegenstand zu tun, der um seiner selbst willen geliebt wird, wenn er nicht Sinnbild der Vollkommenheit ist. Denn ich lebe nicht von den Dingen, sondern vom Sinn der Dinge. Jener schlecht geschnittene Ring indessen oder jene verwelkte Rose, die in ein Stück Leinen eingenäht ist, oder jene Kanne – mag sie auch nur aus Zinn sein –, die für den Tee bei ihr vor dem Liebesspiel bestimmt ist: All diese Dinge sind unersetzlich, da sie zu einem Kult gehören. Nur von Gott allein verlange ich Vollkommenheit, und wenn der Gegenstand aus rohem Holz fortan zu seinem Kult gehört, hat auch er an seiner Vollendung teil. So ist es auch mit der schlafenden Frau. Wenn ich sie nur äußerlich betrachten wollte, werde ich sofort ihrer müde werden und anderswo auf die Suche gehen. Denn sie ist weniger schön als eine andere oder hat einen schlechten Charakter, und selbst wenn sie scheinbar vollkommen ist, bleibt doch bestehen, dass sie nicht jenen Glockenton erklingen lässt, nach dem ich Sehnsucht verspüre, geschweige denn, dass sie die Worte „Du, mein Herr“, ganz verkehrt ausspricht, diese Worte, die auf den Lippen einer anderen zu einer Musik für das Herz würden. Aber schlafe nur getrost in deiner Unzulänglichkeit, du meine unvollkommene Gefährtin. Ich stoße mich nicht an einer Mauer. Du bist nicht Ziel und Belohnung oder ein Schmuckstück, das man um seiner selbst willen verehrt, was mich sofort langweilen würde: Du bist Weg und Fahrzeug und Fuhre. Und ich bin es niemals müde, zu werden. 54 Es kommen dir zwei Kameraden in den Sinn, die einander liebten. Der eine kam den anderen suchen, mitten in der Nacht, bloß weil er seine Späße, seine Ratschläge oder auch einfach nur seine Gegenwart nötig hatte. Und der eine vermisste den anderen, wenn einer von ihnen auf Reisen war. Aber ein absurdes Missverständnis ließ sie sich entzweien. Und nun tun sie, als sähen sie einander nicht, wenn sie einander begegnen. Das Seltsame ist in diesem Fall, dass sie nach nichts mehr Sehnsucht haben. Die Sehnsucht nach Liebe ist Liebe. Was sie voneinander empfingen, werden sie indessen von niemandem sonst in der Welt empfangen. Denn ein jeder scherzt, erteilt Ratschläge oder atmet auch nur auf seine eigene Art und auf keine andere. Nun sind sie also eines Teils ihres Wesens beraubt, amputiert, jedoch unfähig, etwas davon zu erkennen. Und sie sind sogar noch stolz und fühlen sich bereichert durch die Zeit, über die sie nun verfügen. Und so schlendern sie vor den Auslagen einher, jeder für sich. Sie verlieren ihre Zeit nicht mehr mit dem Freund. Sie werden jede Bemühung zurückweisen, die sie wieder dem Speicher zuführen könnte, aus dem sie ihre Nahrung schöpften. Denn der Teil ihres Wesens, der davon lebte, ist gestorben, und wie könnte dieser Teil eine Forderung stellen, da er nicht mehr vorhanden ist? 55 Ich nehme dich so, wie du bist. Es kann sein, dass dich die Krankheit treibt, goldene Nippsachen, wenn sie dir vor die Augen kommen, in die Tasche zu stecken, und dass du darüber hinaus Dichter bist. Ich werde dich also aus Liebe zur Dichtung empfangen. Und aus Liebe zu meinen goldenen Nippsachen werde ich sie wegschließen. Es kann sein, dass du nach Art einer Frau die Geheimnisse, die dir anvertraut wurden, wie Diamanten ansiehst, die für deinen Putz bestimmt sind. Sie geht auf das Fest. Und der seltene Schmuck, den sie zur Schau trägt, macht sie prahlerisch und wichtigtuerisch. Vielleicht bist du außerdem Tänzer. Ich werde dich daher aus Achtung vor dem Tanz empfangen, aber aus Achtung vor den Geheimnissen werde ich sie verschweigen. Aber es kann sein, dass du ganz einfach mein Freund bist. Ich werde dich also aus Liebe zu dir empfangen, so wie du bist. Wenn du hinkst, werde ich nicht von dir verlangen, dass du tanzen sollst. Wenn dir dieser oder jener verhasst ist, werde ich sie dir nicht als Tischgenossen aufnötigen. Wenn du der Speise bedarfst, werde ich dich bedienen. Ich werde dich nicht zergliedern, um dich kennenzulernen. Du bist weder diese oder jene Tat noch deren Summe. Weder dieses oder jenes Wort noch deren Summe. Ich werde dich weder nach diesen Worten noch nach diesen Taten beurteilen. Aber ich werde diese Worte und diese Taten beurteilen, wie es dir gemäß ist. Ich werde als Gegengabe verlangen, dass du mir Gehör schenkst. Ich habe mit dem Freund nichts zu schaffen, der mich nicht kennt und ständig Erklärungen begehrt. Ich habe nicht die Fähigkeit, mich im schwachen Wind der Worte mitzuteilen. Ich bin Berg. Den Berg kann man betrachten. Aber der Schubkarren wird ihn nicht zu dir bringen. Mein Freund ist ein eigener Standpunkt. Ich muss ihn sprechen hören, von wo aus er spricht, denn darin besteht sein besonderes Reich und sein unerschöpflicher Vorrat. Er kann schweigen und mich immer noch reich beschenken. Ich betrachte dann die Welt auf seine Weise und sehe sie anders. Desgleichen erwarte ich von meinem Freund, dass er zunächst einmal wissen muss, von wo aus ich rede. Nur dann wird er mich verstehen. 56 Eisig, o Herr, ist zuweilen meine Einsamkeit. Und ich begehre nach einem Zeichen in der Wüste meiner Verlassenheit. Doch im Lauf eines Traumes hast Du mich belehrt. Ich habe begriffen, dass jedes Zeichen eitel ist, denn wenn Du auf meiner Stufe bist, so zwingst Du mich nicht zu wachsen. Und was vermag ich anzufangen mit mir, o Herr, so wie ich bin? Darum wandere ich und forme Gebete, auf die keine Antwort folgt, und habe als Führung, so blind wie ich bin, nur eine schwache Wärme auf meinen zerschundenen Handflächen, und doch lobe ich Dich, Herr, dafür, dass Du mir nicht antwortest, denn wenn ich gefunden habe, was ich suche, Herr, wird mein Werden vollendet sein. Wenn Du in all Deiner Gnade mit dem Schritt des Erzengels auf den Menschen zugingest, würde der Mensch vollendet sein. Er würde nicht mehr sägen, nicht mehr schmieden, nicht mehr kämpfen, nicht mehr die Kranken pflegen. Er würde nicht mehr seine Stube kehren und nicht mehr die Geliebte lieben. O Herr, würde er den Umweg machen, Dich durch den Nächsten hindurch mit seiner Liebe zu ehren, wenn er Dich anschauen dürfte? 57 Wenn du bei deinem Freund und bei dir selber, anderswo als in dir und anderswo als in ihm, die gemeinsame Wurzel suchst, wenn es für euch beide einen göttlichen Knoten gibt, der sich aus der Zusammenhanglosigkeit der Baustoffe ablesen lässt und die Dinge verknüpft, so gibt es keine Entfernung und keine Zeit, die euch trennen könnte, denn jene Götter, auf die sich eure Einheit gründet, spotten aller Mauern und Meere. Ich habe einen alten Gärtner gekannt, der mir von seinem Freund erzählte. Beide hatten lange Zeit wie Brüder zusammengelebt, bevor das Leben sie trennte; sie hatten ihren Abendtee miteinander getrunken; sie hatten die gleichen Feste gefeiert und einander aufgesucht, um sich Rat zu holen oder sich ins Vertrauen zu ziehen. Im Grunde hatten sie einander wenig zu sagen, und weit häufiger sah man sie nach getaner Arbeit miteinander spazieren gehen und, ohne ein Wort zu reden, die Blumen, die Gärten, den Himmel und die Bäume anschauen. Wenn aber einer von ihnen nickte, während er mit dem Finger eine Pflanze betastete, beugte sich auch der andere nieder und nickte ebenfalls, da er die Spuren der Schnecken erkannte. Und die schön geöffneten Blumen bereiteten ihnen beiden die gleiche Freude. Nun geschah es, dass ein Kaufmann, der den einen von beiden in seine Dienste genommen hatte, diesen für einige Wochen seiner Karawane zuteilte. Doch die Karawanenräuber und die übrigen Wechselfälle des Daseins sowie die Kriege zwischen den Reichen, die Stürme und die Schiffbrüche und die Untergänge, die Trauerfälle und die Berufe, mit denen er sein Leben verdiente, warfen jenen jahrelang hin und her, so wie das Meer ein Fass hin und her schleudert. Sie trieben ihn von Garten zu Garten bis ans Ende der Welt. Schließlich aber, nachdem all die Zeit in Schweigen dahingegangen war, empfing mein Gärtner einen Brief seines Freundes. Gott weiß, wie viele Jahre dieser Brief gereist sein mochte. Gott weiß, welche Postkutschen, welche Reiter, welche Schiffe, welche Karawanen ihn nacheinander mit einer Zähigkeit, wie sie den zahllosen Meereswellen eigen ist, bis in seinen Garten befördert hatten. Und da er an diesem Morgen sein Glück ausstrahlte und wünschte, dass man daran teilnehme, bat er mich, ihm den Brief vorzulesen, den er empfangen hatte, so wie man darum bittet, man möge ein Gedicht vorlesen. Und er betrachtete forschend mein Gesicht, um die Rührung darin zu erkennen, die mir das Lesen verursachte. Und freilich standen da nur einige Worte, denn die beiden Gärtner wussten gewandter mit der Grabschaufel umzugehen als mit der Feder. Und ich las nur diese Worte: „Heute früh habe ich meine Rosenstöcke beschnitten …“ Dann sann ich über die Hauptsache nach, von der es mir schien, dass sie nicht in Worte zu fassen sei und nickte stumm, so wie diese beiden es getan hätten. Mein Gärtner kannte nun keine Ruhe mehr. Ihr hättet ihn sehen sollen, wie er sich über die Geografie, die Schifffahrt, die Kuriere und die Karawanen und die Kriege zwischen den Reichen unterrichtete. Und drei Jahre später wollte es der Zufall, dass ich eine Gesandtschaft zur anderen Seite der Erde ausrüstete. Da ließ ich meinen Gärtner rufen: „Du kannst deinem Freund schreiben.“ Und meine Bäume litten ein wenig Not und die Kräuter des Gemüsegartens auch, während die Schnecken Feste feierten, denn er verbrachte ganze Tage daheim, um zu kritzeln, zu radieren und sein Werk wieder von vorn zu beginnen, und er streckte die Zunge heraus wie ein Kind über seiner Arbeit, denn er wusste, dass er etwas Dringendes zu sagen hatte, und verlangte danach, sich seinem Freund in seiner ganzen Wahrheit mitzuteilen. Er musste seine eigene Brücke über den Abgrund schlagen und sich über Raum und Zeit hinweg mit dem anderen Teil seiner selbst vereinigen. Er musste ihm seine Liebe sagen. Und so kam er, über und über errötend, und zeigte mir seine Antwort, um abermals aus meinem Gesicht einen Widerschein der Freude abzulesen, wie sie den Empfänger erhellen würde, und so an mir die Macht zu erproben, die seinen vertraulichen Nachrichten innewohnte. Und es gab in Wahrheit nichts Wichtigeres, was er kundtun konnte, da es für ihn dabei um das ging, worin er sich vor allem austauschte, nach Art der alten Frauen, die im Spiel der Nadeln ihre Augen verbrauchen, um ihren Gott mit Blumen zu schmücken. Ich las, dass er seinem Freund mit seiner sorgsamen und unbeholfenen Handschrift, wie ein Gebet, von dem er ganz durchdrungen war, doch mit bescheidenen Worten anvertraute: „Heute früh habe auch ich meine Rosenstöcke beschnitten …“ Und ich verstummte, während ich das las, und sann über die Hauptsache nach, die sich mir nun besser zu offenbaren begann, denn sie verherrlichten Dich, o Herr, indem sie sich über die Rosenstöcke hinweg in Dir vereinigten, ohne davon zu wissen. 58 O Herr, nachdem ich mein Volk nach besten Kräften unterwiesen habe, will ich nun für mich selber beten. Denn ich habe von Dir zu viel Arbeit empfangen, um mich diesem oder jenem bestimmten Menschen anzuschließen, den ich hätte lieben können, und ich musste mich schon solchen Umgangs entwöhnen, der allein die Freuden des Herzens gewährt. Aber Du hast mich zum Schweigen verurteilt, damit ich jenseits des Windes der Worte deren Sinn erfasse. So ist es auch mit den Worten über die Freundschaft oder die Liebe. Denn Liebe oder Freundschaft verknüpfen sich wahrhaftig nur in Dir allein, und es beruht auf Deiner Entscheidung, dass ich nur durch Dein Schweigen an ihnen teilhaben kann. Was werde ich empfangen, da ich weiß, dass es Deiner Würde nicht ansteht, ja nicht einmal Deiner Fürsorge, mich auf meiner Stufe zu besuchen, und da ich mir nichts vom Puppenspiel der Erzengelerscheinungen verspreche? Denn ich, der ich mich nicht an diesen oder jenen wende, sondern an den Ackersmann wie an den Hirten, ich habe viel zu geben, aber nichts zu empfangen. Und wenn es sich auch erweist, dass mein Lächeln die Wachtposten trunken macht, weil ich der König bin und in mir das Reich sich verknüpft, das aus ihrem Blut gemacht ist, und weil so durch mich hindurch das Reich ihr eigenes Blut mit meinem Lächeln vergilt, was habe ich, o Herr, von ihrem Lächeln zu erwarten? Von den einen wie von den anderen verlange ich für mich keine Liebe, und es kümmert mich wenig, ob sie mich ignorieren oder hassen, sofern sie mich nur als den Weg achten, der hinführt zu Dir. Denn die Liebe, ich fordere sie allein für Dich, dem sie gehören, wie ich Dir gehöre, und für den sie die Regungen der Anbetung zur Garbe knüpfen und Dir überantworten, so wie ich dem Reich, nicht aber mir selber den Kniefall meiner Wachtposten überantworte, denn ich bin nicht Mauer, sondern Tätigkeit des Samenkorns, das aus der Erde Blätter und Zweige hervortreibt für die Sonne. Mich überkommt daher zuweilen, da es ja für mich keinen König gibt, der mich mit einem Lächeln entlohnen könnte, und es mir obliegt, derart weiterzuwandern bis zu der Stunde, da Du die Gnade haben wirst, mich zu empfangen und mich mit denen zu vereinen, die ich liebe, mich überkommt daher zuweilen die Müdigkeit des Alleinseins und das Bedürfnis, mich wieder zu den Menschen meines Volks zu gesellen, denn ich bin ohne Zweifel noch nicht rein genug.
Antoine de Saint-Exupéry,
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