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Lou Andreas-Salomé

1

In der Liebe ergreift uns der, nichts anderem ähnliche Drang zueinander eben dadurch, dass ein Neues, Fremdes, ein vielleicht Geahntes und Ersehntes, aber nie Verwirklichtes, den ersten Anstoß dazu gibt, – nichts aus dem uns bekannten, vertrauten Umkreis, dem wir uns selbst längst verschmolzen haben, der uns selbst einfach wiederholt. Deshalb befürchtet man stets das Ende eines Liebesrausches, sobald zwei Menschen sich allzu gut kennen lernen und der letzte Reiz der Neuheit verfliegt, – und deshalb ist den Anfängen eines Liebesrausches mit der ungewissen, zitternden Beleuchtung, in der er beginnt, nicht nur ein so unsäglicher Reiz zu eigen, sondern auch eine so besonders fruchtbar anregende, das ganze Wesen tief aufwühlende, die ganze Seele in Schwingung versetzende Kraft, wie sie später kaum je mehr ausgelöst wird.

2

Der Liebende verhält sich in seiner Liebe viel ähnlicher dem Egoisten als dem Selbstlosen; er ist anspruchsvoll, fordernd, von heftigen Eigenwünschen bestimmt und ganz ohne jenes breite, willige Wohlwollen, womit wir uns, in der menschlichen Mitfreude, dem menschlichen Mitleiden, um einen andern, ohne jeden Zusammenhang mit uns selber, sorgen. In der Liebe erweitert sich die Selbstsucht nicht barmherzig und milde, sie spitzt sich vielmehr eng und stark zu, wie zu einer gewaltigen erobernden Waffe. Aber diese Waffe versucht nicht, wie wir es im bloß egoistischen Gebrauch von Menschen oder Dingen tun, den betreffenden Gegenstand seines eigenen Selbstzwecks zu berauben, an seiner Herrlichkeit und Fülle zu verwunden, sondern sie erobert ihn sich im Gegenteil nur, um ihn nach allen Richtungen gelten zu lassen, zu schätzen, zu überschätzen, ihn auf den Thron zu heben und auf Händen zu tragen. So birgt die erotische Liebe alle Übertreibungen der Selbstsucht wie des Wohlwollens, beide zur Leidenschaft geworden und, unbekümmert um den Widerspruch, miteinander zu ein und demselben Gefühl vermählt.

Es ist, als entstände wirklich ein schmaler Riss in unserm Innenleben, durch den hindurch wir aus uns heraus in den ganzen Überschwang des Lebens außer uns trunken zu taumeln vermöchten, während wir gerade im leidenschaftlichsten Egoismus begriffen sind. Wir sind nicht dazu im Stande, uns dem geliebten Wesen mit jener Güte zu verbrüdern, die im andern das ihre gleiche Menschentum umfängt und hochhält und so immer im Umfange ihres eigenen Wesens bleibt, – wir heben uns im Gegenteil in unserer Besonderheit und Andersartigkeit gerade von dem, was wir lieben, am stärksten ab, werden uns der Zweiheit und Verschiedenheit am stärksten bewusst, aber in dieser Zusammenfassung und Vertiefung unseres eigensten Ich werden wir eben dadurch dermaßen intensiv konzentriert, dass wir gewissermaßen am geliebten Menschen überschäumen, überquellen müssen. An ihm, von ihm bedrängt und zusammengedrängt, entlädt sich, wie ein befreiender Strom, unsere gesamte Kraft und erlöst uns produktiv von uns selber.

Der Liebende fühlt sich machtvoll und einer ganzen Welt gewachsen, als habe er die ganze Welt erobert infolge dieser inneren Vermählung seiner selbst mit etwas, was ihn wie den Inbegriff aller schönen Möglichkeiten und Fremdartigkeiten der ganzen Welt anzog. Dieses Gefühl aber ist nur die psychische Kehrseite desjenigen physischen Vorganges, in dessen letzten Konsequenzen der Mensch tatsächlich über sich selbst hinaus gelangt, indem er sich am vollsten betont und durchsetzt: In der Liebesleidenschaft vermählt er sich dem Andersartigen, nicht um sich aufzugeben, sondern um sich selbst noch zu übertrumpfen.

3

Das erotische Empfinden rüttelt uns gründlich auf: Es erfüllt uns wie kein anderes die ganze Seele mit Illusionen und Idealisationen seelischer Art und stößt uns dabei brutal, unausweichlich auf den Spender solcher Erregung, – auf den Körper. Wir können ihn nicht mehr ignorieren, nicht mehr von ihm wegblicken: Mit jedem offenen Blick auf das Wesen der Erotik assistieren wir gleichsam einem uralten, uranfänglichen Schauspiel, – einem Geburtsvorgang des Psychischen in seiner ganzen Pracht aus dem großen, allumfassenden Mutterleib des Physischen.

Aber da wir uns gewöhnt haben, mit „körperlich“ und „geistig“ ebenso getrennte Vorstellungen zu verbinden, wie etwa mit „egoistisch“ und „selbstlos“, so versuchen wir unwillkürlich, auch das Liebesphänomen möglichst einseitig zu fassen, um es unter eine einheitliche Vorstellung bringen zu können. Daher ein so wunderlicher Dualismus in den Auffassungen des Erotischen, daher seine Schilderung von zwei so ganz entgegengesetzten Seiten her, bis sie schließlich in ihren äußersten Konsequenzen auf scheinbar total unvereinbare Behauptungen hinausläuft …

4

Die Liebe ist sowohl das physischste wie auch das scheinbar spiritualistischste, geistesgläubigste, was in uns spukt; sie hält sich ganz und gar an den Körper, aber an ihn ganz und gar als Symbol, als Gleichnis für den Gesamtmenschen und für alles, was sich durch die Pforte der Sinne in unsere verborgenste Seele einschleicht, um sie zu wecken. Ein ewiges Fremdbleiben im ewigen Nahesein ist daher jeder Liebe als solcher als ihr ureigenstes Merkmal gegeben und weicht nicht von ihr: Überall, wo überhaupt Menschen lieben, rührt einer nur gar leise an den andern und überlässt ihn dann sich selbst. Immer ist es ein unerreichbarer Stern, den wir lieben, und immer ist alle Liebe tief in ihrem Wesen eine heimliche Tragödie – die aber nur dadurch, dass sie es ist, ihre gewaltige fruchtbare Wirkung zu äußern vermag.

Man kann nicht so tief in sich selbst hinabsteigen, man kann nicht aus dem Urgrund des Lebens schöpfen, wo alle Kräfte noch verschlungen, alle Gegensätze noch ungeschieden ruhen, ohne auch Glück und Qual in ihrem geheimnisvollen Zusammenhang an sich zu spüren. Denn was dem Menschen da geschieht, das liegt nicht nur jenseits aller Einseitigkeiten und Spaltungen von Selbstsucht oder Selbstlosigkeit, von Sinnlichem oder Geistigem, es liegt auch jenseits jenes sorgsam, mühsam umfriedeten Wohlbefindens, das wir zeitlebens gegen allen Schmerz zu schützen suchen wie gegen unsern ärgsten Feind.

5

Bei der Vermählung zweier Menschenwesen vermöge der erotischen Anziehung kommt es im einzelnen Menschen zu einer Art berauschtem, jubelndem Ineinanderwirken der höchsten produktiven Kräfte seines Körpers und seiner höchsten seelischen Steigerung. Während unserm Bewusstsein sonst die eigene Körperlichkeit wie eine ziemlich schlecht von uns gekannte und noch schlechter kontrollierbare Welt vorschwebt, mit der es zwar eines Wesens sein soll, sich aber in Wirklichkeit meistens schlecht verträgt, gibt es nun plötzlich eine so gemeinsam empfundene Innervation zwischen ihnen, dass alle ihre Wünsche und Sehnsüchte einheitlich zusammenflammen.

Wie manchen Eheleuten, die sich zwar oft zanken, in denen aber doch unzerstörbar das Wissen um ihre tatsächliche Einheit lebendig bleibt, so kommen dem Körper und Geist mit plötzlicher, mit elementarer Macht Tage und Stunden erneuten Vermählungsglücks: Das sind dann große Fest- und Jubeltage mit gewaltigem Pauken- und Trompetenschall, und der innerlichen Freude, die bis in alle letzten Nervenfasern pulst, ist kein Ende. Solch ein Fest, solche eine Feier ist die wahre Erscheinung des erotischen Rausches, in dem der Liebende Körper und Seele in inniger Umschlingung in sich eins fühlt und daher jenes Gesunden, jene kraftvolle Erneuerung verspürt wie nach einem göttlichen Wunderbad.

6

Nicht mit Unrecht sagt man deshalb auch: Alle Liebe beglücke, selbst die unglückliche. Die Richtigkeit dieses Ausspruchs muss ganz und gar unsentimental gefasst werden, ganz ohne Rücksicht auf den geliebten andern, einfach nur als das Glück des Liebens an sich, das in seiner festlichen Aufregung bis in das verborgenste Winkelchen unseres Seins gleichsam hunderttausend helle Kerzen anzündet, deren Glanz alle wirklichen Dinge draußen weit überstrahlt.

Deshalb geschieht es auch, dass Menschen von einer gewissen seelischen Kraft und Tiefe alles Wesentliche von der Liebe wissen, noch ehe sie geliebt haben, und die ganze Seligkeit der Liebe mit suggestiver Wärme und Inbrunst vorauszuschildern im Stande wären. Was bei der Liebeserfahrung im wirklichen Leben, durch die Liebe und den Besitz des andern Menschen, noch hinzukommt, ist nur noch eine besondere Sorte von Glück, Glück durch Verdoppelung ähnlich wie beim Echo-Rufen – Staunen und Freude darüber, dass die Dinge draußen unsern Jubelzuruf an sie zurückhallen.

Und in demselben Maße werden wir immer erfinderischer darin, ihnen alle Zärtlichkeiten und Heimlichkeiten unserer Seele entgegenzusenden und sie zurückzuempfangen, – alle diese reichen Überschwänglichkeiten, die ja zwar Illusionen sind und liebliches Blendwerk in Bezug auf die rein persönliche Beschaffenheit des „andern“, aber dafür ihre Wahrheit besitzen als Ausdruck unserer durch sie veranlassten Herzensergriffenheit, die sich an festlichem Schmuck und Glanz nicht genug tun kann. Obgleich wir nämlich so völlig vom andern erfüllt zu sein wähnen, sind wir es doch nur von unserm eigenen Zustand, der uns im Gegenteil ganz besonders unfähig macht, uns, berauscht wie wir sind, mit der Beschaffenheit von irgendetwas wahrhaft zu befassen.

Liebesleidenschaft ist von allem Anfang an außer Stande zu einer wirklichen sachlichen Aufnahme eines andern, zu einem Eingehen in ihn – sie ist vielmehr unser tiefstes Eingehen in uns selbst, vertausendfachte Einsamkeit ist sie, aber eine solche, der, wie mit tausend blitzenden Spiegeln umstellt, sich die eigene Einsamkeit zu einer alles umfassenden Welt zu weiten und zu wölben scheint. Der geliebte Gegenstand aber ist in ihr nur als der erregende Anlass zu allem enthalten.

7

In die schöpferische Lebenstiefe zurückgewandt, zeigt unser Geist, oft mitten in der erotischen Benommenheit, Kräfte, die er vorher nicht besaß, neben Einbuße anderer, die er bis dahin besessen. Dorthin, nach innen gewandt, scheint er in gewissen Momenten das Antlitz eines Sehers anzunehmen, dessen Lippen mehr verkünden könnten, als er sich in seinem Durchschnittszustand zugemutet hätte; jedoch nach außen hin, in der Urteilsweise des Tages und dessen Ordnung, und vor allem dem geliebten Gegenstand gegenüber, den er absolut nirgends ganz passend in das Übrige einzureihen weiß, zeigt er ebenso oft das Antlitz eines lächelnden und erstaunten Kindes.

Und in der Tat ist in solchem Zustand in ihm vielleicht mehr als je alles, wessen er fähig wäre, in fruchtbarem Keimen zusammengefasst, ohne dass es sich in gesonderten Einzelbetätigungen auseinanderzufalten vermag. Einem Kind gleicht er dann, und ist ja auch in der Tat wieder Kind geworden in der uranfänglichen Gleichsetzung von Körper und Geist und naiven Empfindung beider, – ein Kind, das alles für echt nimmt, dem alles neu ward, das voll grenzenlosem Glauben und Vertrauen hinausjauchzen möchte in die unwahrscheinlich herrliche Welt und vor der weisesten Vernunft keine bessere Verbeugung weiß, als seinen schönsten Purzelbaum.

So wunderlich es klingt, gibt es doch feine, kleine Wesenzüge, die den wahrhaft, von Herzensgrund, Verliebten, verbinden mit der oft und oft gerühmten Kindlichkeit der genial schaffenden Naturen. Er berührt eben, in einem vorübergehenden, physisch veranlassten Zustand, und daher von einem andere Wege her, momentweise jene Tiefe, wo diese Ausnahmemenschen hausen, – er weiß, wie im Traum lallend, etwas von den Herrlichkeiten da unten zu erzählen und hat ja darüber, ach! wie viel Nützliches und Notwendiges vergessen.

Diese unwillkürliche Kindlichkeit, zu der auch der vernunftreichste, hart gesottenste Pedant durch die erotische Verjüngung gelangen kann, unterscheidet am strengsten, am unbestechlichsten, das wirklich Erotische von jeder Art bloßer geiler Begehrlichkeit, sei sie mehr brutal oder mehr raffiniert, denn immer bleibt in ihr die körperliche Erregung isoliert, partiell und schlägt nicht über in den charakteristischen Rauschzustand des gesamten Menschen.

8

Lieben und Schaffen sind in der Wurzel identisch, in allem Schaffen springt nur aus übermächtiger Liebe zum erregenden Anlass, aus überquellendem Wonnegefühl durch ihn, das Werk lebendig hervor: Dem innersten Sinn nach eine Liebestat, – und ebenso ist alle Liebe eigenmächtige Schaffenstat, Schaffenslust, veranlasst durch den geliebten Menschen, aber nicht um seinetwillen, sondern um ihrer selbst willen.

9

Die Welt des Schaffens und Liebens bedeutet Heimat und Himmel, die des unproduktiven und liebeerloschenen Verhaltens dagegen eine gottverlassene Fremde, von der aus uns auch nicht der schmalste Weg ins Verlorene sichtbar zu bleiben scheint, gerade als sei es für immer traumhaft ins öde Nichts hinweggeglitten. Das ist begreiflich, weil bewusster Verstand und Wille nicht genügen, um es zurückzurufen, weil es sich also nicht rufen, nicht erreichen lässt; unsere einzelnen Fähigkeiten in ihrer gesonderten Ausübung werden von uns natürlich eher diszipliniert und beherrscht, als dass wir Gewalt hätten über deren dunkles, allseitiges Zusammenschießen in einem intensiven Gesamterlebnis. Dahin, wo das unmittelbar Lebendige sich leise gestaltet, dringen unsere Willensimpulse nicht mehr; dieses uns Höchste, dieses Leben des Lebens, das uns gerade am aktivsten zu machen scheint, ja das uns erst zu uns selber macht, erdulden wir nur, empfangen wir nur, – es muss uns überkommen.

10

Im Lieben wie im Schaffen ist der Verzicht besser als die schlechte, genügsame Verwirklichung. Es ist besser, wartend und verzichtend an der Pforte unseres Selbst, unseres Heims und Hauses, zu lagern und geduldig zu tun, was es zu tun gibt, bis alles in uns festlich bereitet ist und sich willig auftut, – als die Pforte gewaltsam zu öffnen und sich im unbereiteten Innern wie ein unwillkommener Eindringling aufzuspielen.

11

Lieben heißt: Von jemand wissen, dessen Farbe die Dinge annehmen müssen, wenn sie bis zu uns gelangen, so dass sie aufhören, fremd und schrecklich oder kalt und hohl zu sein, sondern sich, gleich den bösen Tieren in der Umgebung eines Paradieses, dem Leben zahm zu Füßen strecken. In manchen schönsten Liebesliedern lebt – mitten in der Erotik, die sich nach dem Geliebten sehnt – etwas von dieser mächtigen Empfindung, als sei der Geliebte nicht nur er selbst, sondern auch noch die ganze Welt, auch noch das gesamte All, – als sei er das Blättlein noch, das am Aste zittert, der Strahl noch, der auf dem Wasser glitzert, – Verwandler aller Dinge und verwandelt in alle Dinge: Denn in der Tat sprengt sich dieser Liebe das Bild ihres Gegenstandes in hunderttausend Abbilder auseinander, in einen ungeheuren, alles ringsum befruchtenden Reichtum, der macht, dass sie, wohin auch ihr Weg sie führt, auf Liebeswegen wandelt und innerhalb einer Heimat.

12

Lieben ist ein vollkommenes Heimischwerden in uns selbst, ein Nachhause-Kommen zu uns selbst im geheimnisvollen Einklang aller Kräfte, ein Ausruhen und Atemholen nach geteilten und getrennten und vereinzelten Betätigungen des Lebens.

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Nur wer ganz er selbst bleibt, eignet sich auf die Dauer dazu, geliebt zu werden, weil nur er in seiner lebendigen Fülle dem andern das Leben symbolisieren, nur er als eine Macht derselben empfunden werden kann.

Nichts ist deshalb so verkehrt in der Liebe wie eine ängstliche Anpassung und Abschleifung aneinander und jenes ganze System von endlosen gegenseitigen Konzessionen, die nur solchen Menschen wohl anstehen, welche aus lediglich praktischen Gründen unpersönlicher Natur zusammenhalten müssen und sich diese Notwendigkeit möglichst rationell erleichtern.

Und je weiter und feiner zwei Menschen entwickelt sind, desto üblere Folgen hat es, liebeshalber einen auf den andern zu pfropfen, einen auf dem andern schmarotzern zu lassen, anstatt dass ein jeder breite Wurzeln tief in eigenes Erdreich schlägt, auf dass es dem andern zur Welt werde.

14

In der Tat haben es „Hälften“ immer beiderseitig schlecht und eng in ihrer Behausung, wenn sie sich auch noch so genau einander angepasst haben: Sie sagen nun zwar „wir“ statt „ich“, aber das „wir“ hat bald keinen viel breitern Rücken, um ein Stück Leben darauf fortzutragen, als das „ich“ besessen – und das gilt nicht etwa nur für armselige, sondern ebenso für reiche Persönlichkeiten, denn auch die reichsten erschöpfen sich, wo einer dem andern naiv den Inhalt entnimmt und dafür seinen eigenen hineintut, bis sie sich ausgewechselt haben.

Nun wären sie einander vielleicht brüderlich vertraute Menschen, wenn sie keine Liebenden – mit den Erinnerungen und den Begehrungen von Liebewollenden – wären, die sich nur aus Versehen aus zwei reizvollen, fruchtbaren Neuheiten zu tödlichen Trivialitäten wurden. Um sich je noch lebendig zu berühren, dazu kennen sie einander schon zu gut – zum Entsetzen gut, da man auch von der schönsten Speise genug bekommt. Und als dieser Zeitpunkt nahte, da ging daher die Liebe übersättigt von dannen und ließ die beiden in elenden Armeleutekleidern und mit manchem scheu verschwiegenen Hunger allein, als zwei genau, auch nur zu genau aufeinander gearbeitete Hälften.

Denn noch innerhalb der Leidenschaft gibt es kein solches „Kennenlernen“ von Grund aus: Wie weit dasselbe auch immer wieder gediehen sein mag, sie stellt immer wieder zwischen beiden Menschen jenen fruchtbaren Kontakt her, der sich mit keiner andern sympathischen Berührung und Beziehung vergleichen lässt und die beiden von neuem in ihr ursprüngliches Verhältnis zueinander einsetzt: Nämlich in die Stärke des Erlebnisses, zu dem sie sich im eigenen Innern werden, so dass das sachliche Erforschen des andern dabei zu kurz kommt.

Die Liebe füllt den Egoismus eines jeden von ihnen mit viel zu viel Glück und Glanz und Gedeihen an, um ihn zum Erkennen kommen zu lassen, – zu ihrer Beschämung muss sie vielmehr eingestehen: Nicht nur im ersten Sinnenrausch vereitelt sie jedes ordentliche „Kennenlernen“ und macht stattdessen allerhand Flausen und denkt sich dazu einfach etwas ganz Wunderhübsches aus, sondern auch später durchkreuzt und beirrt sie es immer wieder von neuem. Liebe hat eben immer gehört und wird immer gehören zu den leichtsinnigen Eigenschaften des Menschen, in denen er andere Wege geht, als seine Weisheit sich träumen lässt.

Es ist schrecklich zu sagen, aber im Grunde interessiert es den Liebenden auch gar nicht so sehr, wie der Andere eigentlich „ist“. Von seiner gräulichen Selbstsucht benommen, genügt es ihm, zu wissen, dass er ihm ganz unbegreiflich gut bekommt. Wie er das anstellt, das bleibt unerforscht – die beiden bleiben einander ein letztes Geheimnis. Ja, es ist schon sicherlich das Gegenteil einer akkuraten Wirtschaft: Wie vielerlei ihnen das Leben auch außer der Liebe zu kosten gegeben hat, es ernüchterte sie nie vollkommen, denn Illusion und Wahrheit gehen ihnen infolge der Liebeszutat immer noch ein bisschen durcheinander – gerade wie es einst im physischen Rausch so verzeihlich gewesen ist, denn wie dort ist ihr Urteil immer noch etwas bestochen, weil die Wirkungen immer noch weit über die Ursache hinauszugehen, alles zu umspannen, sich in alles zu mengen scheinen. Aus Verlegenheit darüber fahren sie daher unentwegt fort, einander ein wenig zu idealisieren, und tun das nur allmählich mit der Miene von Sachverständigen. Und so sind denn alle Teile zufrieden.

Auch wenn sie alte Leute geworden sind? Ja, ich fürchte, sogar dann. Wohl mag längst der Liebesrausch mit seiner Sinnenfreude leiser und leiser, seltener und seltener geworden sein, bis er, ihnen voran, den großen Schlummer schläft. Und doch gehörte seine Vergangenheit ihnen so eng zu wie die still gewordene Gegenwart, und nicht einer ganz andern Gefühlswelt entstammt ihre alternde Liebe. Er ist ihnen ein Erinnerungsfährte, er ist ihnen nah und vertraut, als ob er die Wohnung ihrer Liebe gleichsam noch gemeinsam mit ihnen bewohnte. Er hat das erste Stübchen darin inne gehabt, dasjenige, das ihnen Raum gewährte, ehe sie sich viel und viel hinzubauten: hohe Säle und trauliche Arbeitswinkel und breite Altane. Und nun gehört es doch noch immer dazu, trotzdem es ein wenig veraltet ist und verblichen, und es steckt noch voll von allerlei wunderlichem Kran von einst, bei dessen Anblick alte Leute so eigen zu lächeln wissen.

„Weißt du noch?“, sagen sie einander, wenn sie es sehen, und setzen sich hin und träumen darüber. Wie eine Kindererinnerung ist es dann. Bald schon so fern wie die Kindheit und ebenso unschuldig und ebenso unermesslich tief. Eine Erinnerung voll Torheit, aber diese Torheit in all ihrem spielenden Überschwang kommt ihnen doch mitunter vor wie die Quelle, aus der sie ihr Leben tranken. „Wir träumten in glücklicher Torheit von einander, nur um uns selber voller zu erleben: Wir gaben uns nicht füreinander auf, wir entluden uns nur aneinander: Und da wurden alle unsere Tage reich und standen um uns in blühenden Kindern, und wir gebaren Leben in allen unser Werken.“

So sitzen sie da und reden in lauter Übertreibungen von der Liebe. Denn sie übertreiben noch heute: Das müssen sie tun, weil sie es sich nicht anders erklären können, – und im Erklären waren sie nie stark, – wie es denn eigentlich damit ist, dass man immer selbstischer wird, je lieber man einander hat, und dass zwei nur dann eins sind, wenn sie zwei bleiben.

15

Der Mensch von heute weiß schon besser, dass Menschen einander niemals „besitzen“, dass sie einander gewinnen oder verlieren in jedem Augenblick des Lebens und dass die Liebe überhaupt nur in ihrer tatsächlichen spontanen Wirkung „vorhanden“ ist.

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Unsere Liebeskraft verfällt rettungslos dem Tod, wo sie sich nicht als fruchtbar für unser Innenleben erweist. Wo Liebe mehr sein will als sinnlicher oder schwärmerischer Zeitvertreib, hat sie an derselben großen Lebensaufgabe mitzuarbeiten, der unsere höchsten Ziele und heiligsten Hoffnungen gehören, und sie muss sich von ihrem Gebiet aus ein Stück des Lebens nach dem anderen erobern. Die vollkommenste Liebe wird immer diejenige sein, der dies in Bezug auf die meisten Punkte und Gebiete am vollkommensten gelingt, bis ein Mensch alles durch das Medium des andern Menschen erlebt – ja, bis die Liebespartner einander alles zu sein im Stande sind: Geliebte, Gatten, Geschwister, Freunde, Eltern, Kameraden, spielende Kinder, strenge Richter, erbarmende Engel.

Lou Andreas-Salomé, Die Erotik, Matthes & Seitz Verlag, München 1979
Gedanken über das Liebesproblem (1900)
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