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Rabindranath Tagore

1

Ich warte nur auf die Liebe, um mich schließlich in seine Hände zu ergeben. Deshalb ist es so spät, und deshalb habe ich mir solche Unterlassungen zuschulden kommen lassen.

Sie kommen mit ihren Gesetzen und Kodizes, um mich zu fesseln. Aber ich entkomme ihnen immer und warte auf die Liebe, um mich schließlich in seine Hände zu ergeben.

Die Leute tadeln mich und nennen mich kopflos. Ich zweifle nicht, dass sie recht haben mit ihrem Tadel.

Der Markttag ist vorbei, und die Arbeit ist getan für den Fleißigen. Die, die mich vergeblich riefen, sind zornig zurückgegangen. Ich warte nur auf die Liebe, um mich schließlich in seine Hände zu ergeben.

2

Ist es mir nicht bestimmt, dich in diesem Leben zu treffen, so lass mich denn immer fühlen, dass ich deinen Anblick vermisse – lass es mich keinen Augenblick vergessen, lass mich diese Schmerzensstiche in meine Träume tragen und auch in meine wachen Stunden.

Wenn meine Tage vergehen im geschäftigen Markt dieser Welt und die täglichen Gewinne sich in meinen Händen anhäufen, so lass mich immer fühlen, dass ich nichts gewonnen habe – lass es mich keinen Augenblick vergessen, lass mich diese Schmerzensstiche in meine Träume tragen und auch in meine wachen Stunden.

Wenn ich am Straßenrand sitze, müde und keuchend, wenn ich mein Bett ausbreite unten im Staub, so lass mich immer fühlen, dass die lange Reise nach innen vor mir liegt – lass es mich keinen Augenblick vergessen, lass mich diese Schmerzensstiche in meine Träume tragen und auch in meine wachen Stunden.

Wenn meine Zimmer geschmückt worden sind, wenn die Flöten erklingen und das Lachen laut ist, so lass mich fühlen, dass ich dich nicht in mein Haus eingeladen habe – lass es mich keinen Augenblick vergessen, lass mich diese Schmerzensstiche in meine Träume tragen und auch in meine wachen Stunden.

3

Hast du seine leisen Schritte nicht gehört? Er kommt, kommt, kommt immer.

In jedem Augenblick, zu jeder Zeit, jeden Tag und jede Nacht kommt er, kommt, kommt immer.

So manches Lied hab ich gesungen in so manchen Stimmungen, doch alle ihre Noten haben stets ausgerufen: „Er kommt, kommt, kommt immer!“

In den strahlenden Tagen des sonnigen Aprils kommt er durch den Waldpfad, er kommt, kommt, kommt immer.

Im Regendämmern der Julinächte kommt er auf dem donnernden Wolkenwagen, er kommt, kommt, kommt immer.

Nach jedem Kummer sind es seine Schritte, die mir auf das Herz drücken, und es ist das goldene Gewicht seiner Füße, das meine Freude aufleuchten lässt.

4

Dass ich nur dich will, nur dich – lass dies mein Herz ohne Ende wiederholen. Alle Wünsche, die mich ablenken Tag und Nacht, sind falsch und leer durch und durch.

Auch wenn die Nacht in ihrer Dunkelheit den Wunsch nach Licht verborgen hält, so klingt aus der Tiefe meines Unbewussten doch der Schrei: „Ich will dich, nur dich!“

Und wenn der Sturm sein Ende sucht im Frieden, wenn er sich mit aller Kraft gegen den Frieden wehrt, dann wehrt sich so meine Rebellion gegen deine Liebe, und dennoch schrei ich: „Ich will nur dich, nur dich!“

5

Du bist der Himmel und du bist auch das Nest.

Oh wie schön, hier im Nest ist deine Liebe, die die Seele mit Farben, Klängen und Düften umhüllt.

Hier kommt der Morgen mit dem goldenen Korb, in seiner Rechten den Kranz der Schönheit, um die Erde still damit zu krönen.

Hier kommt der Abend über die einsamen Matten, verlassen von den Herden, durch Pfade ohne Spuren, und trägt einen kühlen Hauch des Friedens in seinem goldenen Krug aus dem westlichen Ozean der Ruhe.

Aber hier, wo der Himmel sich in seiner Unendlichkeit ausbreitet, um den Flug der Seele aufzunehmen, regiert die leuchtende Reinheit. Es gibt weder Tag noch Nacht, weder Form noch Farbe und nie, nie ein Wort.

6

Ich prahlte unter den Leuten, dass ich dich gekannt habe. Sie sehen deine Bilder in allen meinen Werken. Sie kommen und fragen mich: „Wer ist er?“ Ich weiß nicht, wie ich ihnen antworten soll. Ich sage: „In Wahrheit, ich kann es nicht sagen.“ Sie tadeln mich und gehen weg voller Verachtung. Und du sitzt lächelnd neben mir.

Ich legte meine Erzählungen über dich in endlose Gesänge. Das Geheimnis quillt aus meinem Herzen. Sie kommen und fragen mich: „Erzähl uns all dein Wissen.“ Ich weiß nicht, wie ich ihnen antworten soll. Ich sage: „Ach, wer weiß, was es bedeutet.“ Sie lächeln und gehen weg mit höchster Verachtung. Und du sitzt lächelnd neben mir.

7

Wenn du nicht sprichst, werde ich mein Herz mit deinem Schweigen füllen und es ertragen. Ich werde stillhalten und warten wie die Nacht in Wache mit den Sternen und mit gesenktem Kopf in Geduld.

Der Morgen wird sicher kommen, die Dunkelheit wird verschwinden, und deine Stimme wird herabfließen in goldenen Strömen und durch den Himmel brechen.

Dann fügen sich deine Worte ein in die Gesänge aller Vögel meines Nestes, und deine Melodien werden hervorquellen in den Blumen aller meiner Wälder.

8

Ja, ich weiß, das ist alles nur deine Liebe, oh Geliebter meines Herzens – dieses goldene Licht, das auf den Blättern tanzt, diese schwebenden Wolken, die über den Himmel gleiten, dieser Lufthauch, der mir seine Kühle auf meiner Stirn hinterlässt.

Das Morgenlicht hat meine Augen durchflutet, das ist deine Botschaft an mein Herz. Dein Gesicht beugt sich von oben herab, deine Augen schauen herunter auf meine Augen, und mein Herz hat deine Füße berührt.

9

Ich bitte um einen Moment der Muße, um an deiner Seite zu sitzen. Die Arbeit, die ich in der Hand habe, werde ich nachher vollenden.

Wenn ich dein Gesicht nicht sehe, kennt mein Herz weder Ruhe noch Erleichterung, und meine Arbeit ist eine endlose Mühe in einem uferlosen Meer der Plage.

Heute ist der Sommer an mein Fenster gekommen mit seinen Seufzern und seinem Raunen. Und die Bienen sind wie Minnesänger und fliegen hin und her im blühenden Hain.

Nun ist es Zeit, mich hinzusetzen, Auge in Auge mit dir und die Hingabe an das Leben zu besingen in dieser stillen und üppigen Zeit.

10

Lass all die Klänge meiner Freude einfließen in meinen letzten Gesang – die Freude, die die Erde das Gras üppig wuchern lässt; die Freude, die die Zwillingsbrüder Leben und Tod über die weite Welt tanzen lässt; die Freude, die hereinfegt mit allem Sturm, der alles Leben aufrüttelt und weckt mit Gelächter; die Freude, die still dasitzt mit ihren Tränen auf dem offenen roten Lotus des Schmerzes, und die Freude, die alles, was sie hat, in den Staub wirft und nicht ein Wort weiß.

11

Mein Lied hat jeden Schmuck abgelegt. Es legt keinen Wert auf Kleidung und Dekoration. Ornamente würden unseren Bund verderben. Sie würden zwischen dich und mich sich stellen, ihr Geklingel würde dein Flüstern überdecken.

Die Eitelkeit des Dichters vergeht in Scham vor deinem Antlitz. Oh, Meisterpoet, ich habe mich zu deinen Füßen niedergesetzt. Lass mich nur mein Leben einfach und gerade machen, wie eine Rohrflöte, damit du sie mit Musik erfüllst.

12

Tag für Tag, oh Herr meines Lebens, werde ich vor dir stehen von Angesicht zu Angesicht.

Mit gefalteten Händen, oh Herr aller Wolken, werde ich vor dir stehen von Angesicht zu Angesicht.

Unter dem großem Himmel, in Einsamkeit und Schweigen, mit demütigem Herzen werde ich vor dir stehen von Angesicht zu Angesicht.

In dieser deiner geschäftigen Welt, voller Tumult, mit Plage und Kampf, mitten unter den gehetzten Mengen werde ich vor dir stehen von Angesicht zu Angesicht.

Und wenn meine Arbeit in dieser Welt getan sein wird, oh König der Könige, werde ich alleine und sprachlos vor dir stehen von Angesicht zu Angesicht.

Rabindranath Tagore, Gitanjali
Übersetzung: Siglinde Schnitzler
Auswahl und Reihung: Andreas Marschler