Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
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Von der Stadt der Seele
Intravit Jesus in quoddam castellum et mulier qaedam excepit illum etc. [Lk
10,38] Ich habe eben ein Wörtlein auf lateinisch gesprochen, das im Evangelium
steht und auf deutsch also heißt: »Unser Herr Jesus Christus ging in ein
Städtchen und ward von einer Jungfrau empfangen, die ein Weib war.«
Fürwahr, achtet nun aufmerksam dieses Worts. Es muss notwendig so
sein, dass der Mensch, von dem Jesus empfangen ward, eine Jungfrau war. Jungfrau
heißt so viel wie ein Mensch, der aller fremden Bilder ledig ist, so ledig, wie
er war, als er nicht war. Seht, nun könnte man fragen: Der Mensch, der geboren
und zu vernünftigem Leben vorgeschritten ist, wie kann der so frei von allen
Bildern sein, wie damals, als er nicht war, da er doch viel weiß, und das sind
alles Bilder: Wie kann er dann frei sein?
Nun achtet auf die Unterscheidung, auf die ich euch hinweisen will.
Wäre ich so vernünftig, dass alle Bilder, die je Menschen empfangen haben und
die in Gott selbst sind, vernünftig in mir stünden, und zwar, dass ich sie im
Tun und im Lassen ohne Eigenschaft begriffen hätte, ohne Vor und ohne Nach,
dass sie vielmehr in diesem gegenwärtigen Nu frei und ledig nach dem liebsten
Willen Gottes stünden, um dem ohne Unterlass nachzukommen, dann wäre ich in
Wahrheit Jungfrau, unbehindert von allen Bildern, und wahrscheinlich so, wie ich
war, als ich nicht war. Wie die Meister sagen, dass gleich und gleich allein
eine Sache der Einheit sei, so muss auch der Mensch keusch sein und Jungfrau,
der den keuschen Jesus empfangen will.
Ich sage ferner, dass eine Kraft in der Seele ist, die nicht Zeit
noch Fleisch berührt, sie fließt aus dem Geiste und bleibt in dem Geiste und ist
ganz geistig. In dieser Kraft ist Gott allzumal grünend und blühend in aller
Freude und in aller Ehre, wie er in sich selber ist. Da ist so herzliche Freude
und so unbegreiflich große Freude, dass niemand genug davon sagen kann. Denn der
ewige Vater gebiert seinen ewigen Sohn in dieser Kraft ohne Unterlass, sodass
diese Kraft den Sohn des Vaters mitgebären hilft und sich selber denselben Sohn
in der einigen Kraft des Vaters. Und hätte ein Mensch ein ganzes Königreich oder
allen Reichtum der Erde und ließe das rein um Gottes willen und würde einer der
ärmsten Menschen, der je auf Erden lebte, und gäbe ihm dann Gott so viel zu
leiden, als er je Menschen auferlegt hat, und litte er alles dies bis an seinen
Tod und gäbe ihm dann Gott einen Augenblick zu schauen, wie er in dieser Kraft
ist: Seine Freude würde so groß, dass all dies Leiden und diese Armut dann noch
zu klein wäre. Ja, gäbe ihm Gott gar hernach kein Himmelreich mehr, er hätte
dann doch noch zu großen Lohn empfangen für alles, was er je gelitten: Denn Gott
ist in dieser Kraft wie in dem ewigen Nu. Wäre der Geist allezeit mit Gott in
dieser Kraft vereint, der Mensch könnte nicht altern. Denn das Nu, worin Gott
den ersten Menschen machte, und das Nu, worin der letzte Mensch vergehen soll,
und das Nu, worin ich spreche, die sind gleich in Gott, und es ist nichts als
ein Nu. Nun seht: Dieser Mensch wohnt in einem Licht mit Gott, darum ist in ihm
weder Empfangen noch Nachfolgen, sondern eine gleiche Ewigkeit. Diesem Menschen
ist in Wahrheit gar viel abgenommen und alle Dinge stehen wesenhaft in ihm.
Darum empfängt er nichts Neues von künftigen Dingen und von keinem Zufall, denn
er wohnt in einem Nu, allezeit neu grünend und ohne Unterlass. Solche göttliche
Herrlichkeit ist in dieser Kraft.
Noch eine Kraft gibt es, die auch unkörperlich ist: Sie fließt aus
dem Geiste und bleibt im Geiste und ist ganz geistig. In dieser Kraft ist Gott
ohne Unterlass glimmend und brennend mit all seinem Reichtum, mit all seiner
Süßigkeit und mit all seiner Wonne. Wahrlich, in dieser Kraft ist so große
Freude und so große maßlose Wonne, dass niemand wahr genug davon sprechen und
künden kann. Ich sage aber: Gäbe es einen einzigen Menschen, der hierin einen
Augenblick in Wahrheit und vernünftig die Wonne und die Freude schaute: Alles,
was er leiden könnte und was Gott von ihm gelitten haben wollte, das wäre ihm
alles wenig und sogar nichtig, ja, ich sage: Es wäre ihm zumal eine Freude und
eine Wohltat.
Ich habe manchmal gesagt, es sei eine Kraft im Geiste, die allein
frei sei. Zu Zeiten habe ich gesagt, es sei eine Hütte des Geistes; zu Zeiten
habe ich gesagt, es sei ein Licht des Geistes; zu Zeiten habe ich gesagt, es sei
ein Fünklein. Ich sage aber jetzt: Es ist weder dies noch das. Es ist überhaupt
kein Etwas; es ist höher über dies und das als der Himmel über der Erde. Darum
nenne ich es jetzt in einer edleren Weise, als ich es früher nannte, und doch
geht es über Edelkeit und Gradunterschiede und Wesen hinaus und ist darüber
erhoben. Es ist von allen Namen frei und von allen Formen ganz los, ledig und
frei, wie Gott in sich selbst ledig und frei ist. Es ist so ganz eins und
einfach, wie Gott eins und einfach ist, dass man auf keine Weise es anschaulich
machen kann. Dieselbe Kraft, von der ich gesprochen habe, in der ist Gott
blühend und grünend mit all seiner Gottheit und der Geist in Gott in derselben
Kraft, worin der Vater seinen eingeborenen Sohn gebiert, wahrlich wie in sich
selber, und der Geist gebiert mit dem Vater denselben Sohn und sich selber und
ist derselbe Sohn in diesem Licht und ist die Wahrheit. Könntet ihr mit meinem
Herzen zuhören, ihr verstündet wohl, was ich spreche, denn es ist wahr, und die
Wahrheit spricht es selbst.
Seht, nun passt auf: So eins und einfach ist diese Stadt in der
Seele, von der ich euch spreche und die ich meine, und über alle Weise erhaben,
dass die edle Kraft, von der ich gesprochen habe, nicht würdig ist, jemals einen
Augenblick hineinzublicken; und ebenso die andere Kraft, worin Gott glimmt und
brennt, die darf auch niemals hineinblicken, so gar eins und einfach ist diese
Stadt, und so über aller Weise und allen Kräften ist dieses einig Eine, dass ihm
niemals Kraft oder Weise zuschauen kann, ja nicht einmal Gott selbst. Mit guter
Wahrheit und so wahr Gott lebt: Gott selbst schaut niemals einen Augenblick
hinein und hat nie hineingesehen, insofern er sich darstellt in einer Weise und
in der Eigenschaft seiner Personen. Dies ist gut zu verstehen, denn dies einig
Eine ist ohne Weise und ohne Eigenschaft. Und wenn daher Gott jemals
hineinblicken soll, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen und seine
persönliche Eigenschaft kosten: Das muss er alles vorher lassen, wenn er je
hineinblicken soll. Wie er einfach eins ist ohne alle Weise und Eigenschaft, da
ist er nicht Vater und nicht Sohn und nicht heiliger Geist in diesem Sinne und
ist doch ein Etwas, das nicht dies und nicht das ist.
Seht, so wie er eins ist und einfach, so kommt er in das Eine, das
ich eine Stadt in der Seele heiße, und sonst kommt er auf keine Weise hinein,
sondern so kommt er hinein und ist darin. In diesem Stück ist die Seele Gott
gleich und auf keine andere Weise. Was ich euch gesagt habe, ist wahr: Dafür
stelle ich euch die Wahrheit als Zeugen und meine Seele als Pfand. Dass wir eine
solche Stadt seien, in der Jesus eingeht und empfangen werde und ewig in uns
bleibe in der Weise, wie ich gesagt habe, das walte Gott. Amen.
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