Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer


Predigten

Vom Schweigen
Vom Unwissen
Von der Dunkelheit
Von stetiger Freude
Von der Stadt der Seele
Vom namenlosen Gott
Vom innersten Grunde
Von der Vollendung der Zeit
Ein Zweites vom namenlosen Gott
Von guten Gaben
Von unsagbaren Dingen
Vom Leiden Gottes
Von der Einheit der Dinge
Wie Jesus an dem Stricke zog
Von der Erkenntnis Gottes
Von der Armut
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Von der Erneuerung des Geistes
Von der Natur
Von Gott und Mensch
Vom Tod
Was ist Gott?
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Traktate

Von den Stufen der Seele
Gespräch zwischen Schwester
   Kathrei und dem Beichtvater

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Von der Überfreude
Die Seele auf der Suche nach Gott
Von der Überfahrt zur Gottheit
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Vom innersten Grunde

Es spricht ein Meister: »Gott ist ein Mensch geworden, davon ist das ganze Menschengeschlecht erhöht und geehrt. Darüber können wir uns wohl freuen, dass Christus, unser Bruder, aus eigener Kraft über alle Chöre der Engel gefahren ist und zur rechten Hand des Vaters sitzt.« Dieser Meister hat recht gut gesprochen; aber wahrlich, ich mache mir nicht viel daraus. Was hülfe es mir, wenn ich einen Bruder hätte, der ein reicher Mann wäre und ich ein armer, er weise und ich ein Tor? Ich spreche etwas anderes und dringenderes: Gott ist nicht allein Mensch geworden, sondern er hat menschliche Natur angenommen.
   Es sagen die Meister gewöhnlich, alle Menschen seien gleich edel von Natur. Aber ich sage wahrhaftig: Alles Gute, was alle Heiligen besessen haben, und Maria die Gottesmutter, und Christus gemäß seines Menschtums, das ist mein eigen in dieser Natur. Wo der Vater seinen Sohn im innersten Grunde gebiert, da hat diese Natur ein Hineinschweben. Diese selbe Natur ist eins und einfach. Hier kann wohl etwas herausschauen und herzuhängen, das ist das eine Nichts.
   Ich spreche von einem anderen und von einem schwereren. Wer in der Nacktheit dieser Natur ohne Mittel dastehen soll, der muss aus aller Person herausgegangen sein, sodass er dem Menschen, der jenseits des Meeres ist, den er nie von Angesicht erblickt hat, ebenso sehr Gutes gönnt als dem, der bei ihm ist und sein trauter Freund. Solange du deiner Person mehr Gutes gönnst als dem Menschen, den du nie gesehen, solange bist du wahrlich im Unrecht und du schautest nie einen Augenblick in diesen einfachen Grund. Du hast freilich in einem abgezogenen Bild die Wahrheit wie in einem Gleichnis gesehen, es war aber nicht das Beste. Zum zweiten sollst du reinen Herzens sein, und das Herz ist allein rein, das alle Erschaffenheit vernichtet hat. Zum dritten sollst du das Nichts los sein.
   Es ist eine Frage, was in der Hölle brenne? Die Meister sagen gewöhnlich: Das tut der Eigenwille. Aber ich sage wahrlich: Das Nichts brennt in der Hölle. Ein Gleichnis: Man nehme eine brennende Kohle und lege sie auf meine Hand. Sagte ich, die Kohle brenne meine Hand, so täte ich ihr gar Unrecht. Soll ich eigentlich sagen, was mich brennt? Das tut das Nichts, weil die Kohle etwas in sich hat, was meine Hand nicht hat. Seht, eben dieses Nichts brennt mich. Denn hätte meine Hand alles das in sich, was die Kohle ist und leisten kann, so hätte sie völlige Feuernatur. Wenn einer dann alles Feuer, das je brannte, nähme und auf meine Hand schüttete, so könnte es mich nicht schmerzen. In gleicher Weise also spreche ich: Weil Gott und alle die, die im Angesicht Gottes sind, in der rechten Seligkeit etwas in sich haben, was die nicht haben, die von Gott getrennt sind, dieses Nichts allein peinigt die Seelen mehr, die in der Hölle sind, als Eigenwille oder irgendein Feuer. Ich sage wahrlich: So viel Nichts dir anhaftet, so sehr bist du unvollkommen. Wollt ihr darum vollkommen sein, so müsst ihr das Nichts los ein. Darum heißt ein Wörtlein: »Gott hat seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt«, das sollt ihr nicht für die äußere Welt verstehen, wie er mit uns aß und trank, ihr sollt es für die innere Welt verstehen. So wahr der Vater mit seiner einfachen Natur den Sohn natürlich gebiert, so wahr gebiert er ihn in des Geistes Innigstem, und das ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich außer meinem Eigenen, wie Gott außer seinem Eigenen lebt. Wer nur einen Augenblick in diesen Grund geblickt hat, dem Menschen sind tausend Pfund rotes geschlagenes Gold nicht mehr als ein falscher Heller. Aus diesem innersten Grund heraus sollst du alle deine Werke wirken ohne ein Warum. Ich sage wahrlich: Solange du deine Werke um des Himmelreichs oder um Gottes oder um deiner ewigen Seligkeit willen von außen her wirkst, so lange bist du wahrlich im Unrecht. Man kann dies freilich so hingehen lassen, aber es ist nicht das Beste. Denn wahrlich, wenn du glaubst, du gelangest durch Innigkeit, durch Andacht, durch Willfährigkeit oder besondere Anstalten eher zu Gott als am Herd oder im Stall, so tust du nichts anderes, als wenn du Gott nähmest und wickeltest ihm einen Mantel um den Kopf und stecktest ihn unter eine Bank. Denn wer Gott in einer Weise sucht, der nimmt die Weise und lässt Gott, der in der Weise verborgen ist. Aber wer Gott ohne Weise sucht, der nimmt ihn, wie er an sich selbst ist, und dieser Mensch lebt mit dem Sohne, und er ist das Leben selbst. Wer das Leben tausend Jahre lang fragte: Warum lebst du? Wenn es antworten sollte, spräche es nichts anderes als: Ich lebe darum, weil ich lebe. Das kommt daher, dass das Leben aus seinem eigenen Grund heraus lebt und aus seinem Eigenen quillt. Darum lebt es ohne Warum, indem es sich selber lebt. Wer nun einen wahrhaften Menschen, der aus seinem eigenen Grunde heraus wirkt, fragt: Warum wirkst du deine Werke? Wenn er recht antworten sollte, spräche er nichts anderes als: Ich wirke, weil ich wirke.
   Wo die Kreatur endet, da beginnt Gott zu sein. Nun begehrt Gott nichts anderes von dir, als dass du aus dir selbst in kreatürlicher Weise hinausgehst und Gott Gott in dir sein lassest. Das geringste kreatürliche Bild, das sich in dir bildet, ist ebenso groß wie Gott. Warum? Weil es dich eines ganzen Gottes beraubt. Denn wo dies Bild hineingeht, da muss Gott und seine ganze Gottheit weichen. Aber wo dies Bild hinausgeht, da geht Gott hinein. Gott begehrt so gewaltig danach, dass du aus dir selbst in kreatürlicher Weise hinausgehst, als ob all seine Seligkeit daran liege. Fürwahr, lieber Mensch, was schadet es dir, dass du Gott gönnst, dass er Gott in dir sei? Geh doch Gott zulieb aus deinem Selbst heraus, so geht Gott dir zulieb aus seinem heraus! Wenn diese zwei hinausgehen, was dann zurückbleibt, ist ein einfach Eines. In diesem Einen gebiert der Vater seinen Sohn in dem innersten Brunnen. Da erblüht der heilige Geist und da entspringt in Gott ein Wille, der der Seele zugehört. Und solange der Wille unberührt von allen Kreaturen und von aller Erschaffenheit steht, so lange ist der Wille frei. Christus spricht: »Niemand kommt in den Himmel, als wer vom Himmel gekommen ist.« Alle Dinge sind aus Nichts erschaffen, darum ist ihr eigentlicher Ursprung Nichts. Insofern sich dieser edle Wille zu den Kreaturen neigt, so verfließt er mit diesen Kreaturen in ihr Nichts.
   Nun ist eine Frage, ob dieser Wille so verfließe, dass er niemals mehr wiederkommen könne? Die Meister sagen gewöhnlich, er komme nie wieder, insofern er in der Zeit verflossen ist. Aber ich sage: Wenn dieser Wille sich einen Augenblick von sich selbst und von aller Erschaffenheit wieder zu seinem Ursprung hinwendet, so steht der Wille in einer rechten freien Art da und ist frei, und in diesen Augenblick wird alle verlorene Zeit wiedergebracht. Die Leute sagen oft zu mir: Bittet für mich. Da denke ich: Warum geht ihr heraus? Warum bleibt ihr nicht bei euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch. Dass wir so wahrhaft in ihm bleiben und alle Wahrheit ohne Mittel und ungeteilt in rechter Seligkeit besitzen mögen, das walte Gott. Amen.