Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
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Von der Abgeschiedenheit
Ich habe viele Schriften gelesen von heidnischen Meistern und von
Propheten und vom alten und neuen Bund und habe mit Ernst und ganzem Fleiß
gesucht, was die beste und höchste Tugend sei, mit der der Mensch sich auf dem
nächsten Wege zu Gott verfügen könnte und mit der der Mensch ganz gleich wäre
dem Bilde, wie er in Gott war, indem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war,
bevor Gott die Kreaturen erschuf. Und wenn ich alle Schriften durchforsche, so
gut meine Vernunft zu ergründen und erkennen vermag, so finde ich nichts anderes
als reine Abgeschiedenheit, die aller Kreaturen entledigt ist. Darum sprach
unser Herr zu Martha: »unum est necessarium«, das heißt so viel wie: Wer getrübt
und rein sein will, der muss eines haben, und das ist Abgeschiedenheit.
Die Lehrer loben gar gewaltig die Liebe, wie zum Beispiel Sankt
Paulus mit den Worten: »Was ich auch üben mag, habe ich nicht Liebe, so habe ich
gar nichts.« Ich aber lobe die Abgeschiedenheit mehr als alle Liebe. Zum Ersten
darum, weil das Gute an der Liebe ist, dass sie mich zwingt, Gott zu lieben. Nun
ist es viel mehr wert, dass ich Gott zu mir zwinge, als dass ich mich zu Gott
zwinge. Und das kommt daher, dass meine ewige Seligkeit daran liegt, dass ich
und Gott vereinigt werden; denn Gott kann sich passender mir anpassen und besser
mit mir vereinigen als ich mit ihm. Dass Abgeschiedenheit Gott zu mir zwingt,
das bewähre ich damit: Ein jedes Ding ist doch gerne an seiner natürlichen
Eigenstätte. Nun ist Gottes natürliche Eigenstätte Einfachheit und Reinheit; die
kommen von der Abgeschiedenheit. Darum muss Gott notwendig sich selbst einem
abgeschiedenen Herzen hingeben. – Zum Zweiten lobe ich die Abgeschiedenheit mehr
als die Liebe, weil die Liebe mich dazu zwingt, alles um Gottes willen auf mich
zu nehmen, während die Abgeschiedenheit mich dazu zwingt, dass ich für nichts
empfänglich bin als für Gott. Nun steht es aber viel höher, für gar nichts als
Gott empfänglich zu sein, als um Gottes willen alles zu ertragen. Denn in dem
Leiden hat der Mensch noch einen Hinblick auf die Kreatur, von der er zu leiden
hat. Die Abgeschiedenheit dagegen ist aller Kreatur entledigt. Dass aber die
Abgeschiedenheit für nichts als für Gott empfänglich ist, das beweise ich: Denn
was empfangen werden soll, das muss irgendworin empfangen werden. Nun ist aber
die Abgeschiedenheit dem Nichts so nahe, dass kein Ding so zierlich ist, dass es
in der Abgeschiedenheit enthalten sein kann als Gott allein. Der ist so einfach
und zierlich, dass er wohl in dem abgeschiedenen Herzen sich aufhalten kann.
Die Meister loben auch die Demut vor vielen andern Tugenden. Ich
lobe die Abgeschiedenheit vor aller Demut und zwar darum: Die Demut kann ohne
die Abgeschiedenheit bleiben; dagegen gibt es keine vollkommene Abgeschiedenheit
ohne vollkommene Demut. Denn vollkommene Demut zielt auf ein Vernichten seiner
selbst; nun berührt sich aber die Abgeschiedenheit so nahe mit dem Nichts, dass
zwischen ihr und dem Nichts kein Ding mehr sein kann. Daher kann es keine
vollkommene Abgeschiedenheit ohne Demut geben, und zwei Tugenden sind immer
besser als eine. Der andere Grund, warum ich die Abgeschiedenheit der Demut
vorziehe, ist das, dass die vollkommene Demut sich selbst unter alle Kreaturen
beugt, und eben damit begibt sich der Mensch aus sich selbst zu den Kreaturen.
Aber die Abgeschiedenheit bleibt in sich selbst. Nun aber kann kein Hinausgehen
jemals so hoch stehen wie das Darinbleiben in sich selbst. Die vollkommene
Abgeschiedenheit achtet auf nichts und neigt sich weder unter noch über eine
Kreatur; sie will nicht unten noch oben sein; sie will so für sich selbst
verharren, niemand zu Lieb und niemand zu Leid, und will weder Gleichheit noch
Ungleichheit, noch dies noch das mit irgendeiner Kreatur gemein haben, sie will
nichts anders als allein sein. Daher werden keinerlei Dinge von ihr belästigt.
Ich ziehe auch die Abgeschiedenheit allem Mitleid vor, denn das
Mitleid ist nichts anderes, als dass der Mensch aus sich selbst heraus zu den
Gebresten seines Mitmenschen geht und davon sein Herz betrüben lässt. Dessen
steht die Abgeschiedenheit ledig und bleibt in sich selbst und lässt sich durch
nichts betrüben. Kurz gesagt: Wenn ich alle Tugenden betrachte, so finde ich
keine so ganz ohne Fehler und so zu Gott führend wie die Abgeschiedenheit.
Ein Meister namens Avicenna spricht: Die Stufe des Geistes, der
abgeschieden ist, ist so hoch, dass alles, was er schaut, wahr ist, und was er
begehrt, wird ihm gewährt, und wo er gebietet, da muss man ihm gehorsam sein.
Und ihr sollt das fürwahr wissen: Wenn der freie Geist in rechter
Abgeschiedenheit steht, so zwingt er Gott zu seinem Wesen; und könnte er formlos
und ohne allen Zustand sein, so nähme er Gottes Eigenschaft an. Das kann aber
Gott niemandem geben als sich selbst; daher kann Gott dem abgeschiedenen Geiste
nicht mehr tun, als dass er sich ihm selbst gibt. Und der Mensch, der so in die
Ewigkeit verzückt, dass ihn kein vergängliches Ding bewegen kann, dass er nichts
empfindet, was körperlich ist, und der Welt tot heißt, denn er empfindet und
schmeckt nichts, was irdisch ist. Das meinte Sankt Paulus, als er sprach: »Ich
lebe und lebe doch nicht, Christus lebt in mir.« Nun könntest du fragen, was
denn die Abgeschiedenheit sei, wenn sie so edel an sich selbst ist. Nun sollst
du erfahren, dass richtige Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als dass der
Geist gegen alle Umstände, sei es Freude oder Leid, Ehre, Schaden oder Schmach,
so unbeweglich bleibt wie ein breiter Berg gegen einen kleinen Wind. Diese
unbewegliche Abgeschiedenheit bringt dem Menschen die größte Gleichheit mit
Gott. Denn dass Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweglichen
Abgeschiedenheit, und davon hat er seine Reinheit und seine Einfachheit und
seine Unwandelbarkeit. Will daher der Mensch Gott gleich werden, soweit eine
Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muss er abgeschieden sein. Und du
sollst wissen: Leer sein aller Kreaturen ist Gottes voll sein, und voll sein
aller Kreatur ist Gottes leer sein. Du sollst ferner wissen, dass Gott in dieser
unbeweglichen Abgeschiedenheit vorweltlich gestanden ist und noch steht, und
sollst wissen, als Gott Himmel und Erde erschuf und alle Kreaturen, das ging
seine unbewegliche Abgeschiedenheit so wenig an, als ob er nie Kreaturen
geschaffen hätte. Ich sage noch mehr: Von allen Gebeten und guten Werken, die
der Mensch in der Zeit wirken kann, wird Gottes Abgeschiedenheit so wenig
bewegt, als ob nirgends in der Zeit ein Gebet oder ein gutes Werk geschähe, und
Gott wird gegen den Menschen dadurch so wenig huldvoller oder geneigter, wie
wenn das Gebet oder die guten Werke nicht vor sich gegangen wären. Ich sage noch
mehr: Als der Sohn in der Gottheit Mensch werden wollte und ward und die Marter
erlitt, das ging die unbewegliche Abgeschiedenheit Gottes so wenig an, als ob er
nie Mensch geworden wäre. Nun könntest du sagen: So höre ich wohl, dass alles
Gebet und alle guten Werke verloren sind, wenn sich Gott ihrer nicht annimmt,
und dass ihn niemand damit bewegen kann, und man sagt doch, Gott will um alle
Dinge gebeten werden. Hier sollst du wohl auf mich achten und mich recht
verstehen [wenn es dir möglich ist], dass Gott mit seinem ersten Blick [wenn wir
von einem ersten Blick da reden wollen] alle Dinge ansah, wie sie geschehen
sollten, und mit demselben Blick sah, wann und wie er die Kreaturen erschaffen
sollte. Er sah auch das geringste Gebet und gute Werk, das jemand je tun würde,
und sah an, welches Gebet und welche Andacht er erhören sollte; er sah, dass du
ihn morgen eifrig anrufen und mit rechtem Ernst bitten wirst, und dieses Anrufen
und Gebet wird Gott nicht morgen erhören, denn er hat es in seiner Ewigkeit
gehört, bevor du Mensch wurdest. Ist aber dein Gebet nicht vernünftig oder ohne
Ernst, so wird es dir Gott nicht jetzt versagen, denn er hat es dir in seiner
Ewigkeit versagt. So hat Gott mit seinem ersten ewigen Blick alle Dinge
angesehen und wirkt gar nichts um eines Warums willen, denn es ist alles ein
vorgewirktes Ding. Und so steht Gott allezeit in seiner unbeweglichen
Abgeschiedenheit, während doch darum der Leute Gebet und gute Werke nicht
verloren sind, denn wer recht tut, dem wird auch recht gelohnt. Philippus sagt:
»Gott Schöpfer hält die Dinge in dem Lauf und der Ordnung, die er ihnen im
Anfang gegeben hat.« Denn bei ihm ist nichts vergangen und auch nichts künftig,
und er hat alle Heiligen geliebt, wie er sie vorhergesehen hat, ehe die Welt
ward. Und wenn es dazu kommt, dass sich das in der Zeit zeigt, was er in der
Ewigkeit angesehen hat, so wähnen die Leute, Gott habe sich eine neue Liebe
beigelegt; und wenn er zürnt oder etwas Gutes tut, so werden wir gewandelt, er
aber bleibt unwandelbar, wie der Sonnenschein den kranken Augen weh und den
gesunden wohl tut, und bleibt doch für sich selbst unwandelbar derselbe Schein.
Gott sieht nicht die Zeit, und in seinem Sehen geschieht auch keine Erneuerung.
In diesem Sinne spricht auch Isidorus in dem Buch vom obersten Gute: Es fragen
viele Leute, was Gott tat, ehe er Himmel und Erde erschuf, oder woher der neue
Wille in Gott kam, dass er die Kreaturen schuf? und antwortete folgendes: Es
stand nie ein neuer Wille in Gott auf, denn obwohl es richtig ist, das die
Kreatur nicht für sich selbst war, wie sie jetzt ist, so war sie doch
vorweltlich in Gott und seiner Vernunft. Gott schuf nicht Himmel und Erde, wie
wir vergänglich sagen, dass sie wurden, sondern alle Kreaturen sind in dem
ewigen Worte gesprochen. Nun könnte ein Mensch fragen: Hatte Christus auch
unbewegliche Abgeschiedenheit, als er sprach: »Meine Seele ist betrübt bis in
den Tod« und Maria, als sie unter dem Kreuze stand? und man spricht doch viel
von ihrer Klage: Wie kann dies alles sich vertragen mit unbeweglicher
Abgeschiedenheit? Hier sollst du erfahren, was die Meister sprechen, dass in
einem jeden Menschen zweierlei Menschen sind: Der eine heißt der äußere Mensch,
das ist die Sinnlichkeit; diesem Menschen dienen fünf Sinne, doch wirkt er mit
der Kraft der Seele. Der andere Mensch heißt der innere Mensch, das ist des
Menschen Innerlichkeit. Nun sollst du wissen, dass jeder Mensch, der Gott liebt,
die Kräfte der Seele in dem äußeren Menschen nicht mehr anwendet, als die fünf
Sinne zur Not bedürfen; und die Innerlichkeit wendet sich nur insoweit zu den
fünf Sinnen, als sie ein Führer und Lehrer derselben ist und sie behütet, dass
sie ihren Gegenstand nicht tierisch benutzen, wie manche Leute tun, die ihrer
leiblichen Wollust nachleben wie die Tiere, die ohne Vernunft sind, und solche
Leute sollten eigentlich mehr Tiere als Menschen heißen. Und die Kräfte, die die
Seele überdies hat und den fünf Sinnen nicht gibt, gibt sie alle dem inneren
Menschen, und wenn er einen hohen, edlen Gegenstand hat, so zieht sie alle die
Kräfte, die sie den fünf Sinnen geliehen hat, zu sich heran, und es heißt dieser
Mensch dann von Sinnen und verzückt, weil sein Gegenstand ein unvernünftiges
Bild ist oder etwas Vernünftiges ohne Bild. Und wisset, dass Gott von jedem
Geistmenschen begehrt, dass er ihn mit allen Kräften der Seele liebt. Darum
sprach er: »Liebe deinen Gott von ganzem Herzen.« Nun gibt es manche Menschen,
die verzehren die Kräfte der Seele ganz und gar in dem äußeren Menschen. Das
sind die Leute, die alle ihre Sinne und Gedanken auf vergängliche Güter richten
und nichts von dem inneren Menschen wissen. Wie nun ein guter Mensch manchmal
den äußeren Menschen aller Kräfte der Seele beraubt, wenn sie eine hohe Aufgabe
hat, so berauben tierische Leute den inneren Menschen aller Kräfte der Seele und
gebrauchen sie für den äußeren Menschen. Nun musst du wissen, dass der äußere
Mensch in Tätigkeit sein kann, während der innere gänzlich derselben entledigt
und unbeweglich steht. Nun war in Christus auch ein äußerer und ein innerer
Mensch und ebenso in unserer Frau, und alles, was Christus und unsere Frau je
von äußeren Dingen redeten, das taten sie als äußerer Mensch, und der innere
Mensch stand in einer unbeweglichen Abgeschiedenheit. Nimm dafür ein Ebenbild:
Eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äußere Brett an
der Türe dem äußeren Menschen und die Angel dem inneren Menschen. Wenn nun die
Tür auf und zu geht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her, und die Angel
bleibt doch unbeweglich an einem Fleck und wird darum nicht im Geringsten
verändert. In gleicher Weise ist es auch hier.
Nun frage ich, was die Aufgabe der reinen Abgeschiedenheit sei?
Darauf antworte ich, dass weder dies noch das ihre Aufgabe ist. Sie beruht auf
einem bloßen Nichts, denn sie beruht auf dem Höchsten, worin Gott mit seinem
ganzen Wirken kann. Nun kann Gott nicht in allen Herzen trotz all seines Willens
etwas wirken. Denn obwohl Gott allmächtig ist, so kann er doch nur wirken, wenn
er Bereitschaft oder Macht findet. Sein Wirken ist in den Menschen anders als in
den Steinen; dafür finden wir in der Natur ein Gleichnis. Wenn man einen
Backofen heizt und einen Teig von Hafer und einen von Gerste und einen von
Roggen und einen von Weizen hineinlegt, so ist nur eine Hitze in dem Ofen, und
doch wirkt sie nicht in allen Teigen gleich; denn der eine wird ein schönes
Brot, der andere wird rau und der dritte noch rauer. Daran ist nicht die Hitze
schuld, sondern die Materie, die ungleich ist. Ebenso wirkt Gott nicht in allen
Herzen gleich, sondern je nachdem er Bereitschaft und Empfänglichkeit findet. In
den Herzen nun, in denen dies oder das ist, kann etwas sein, das Gott hindert,
aufs Höchste zu wirken. Soll daher ein Herz Bereitschaft für das Allerhöchste
haben, so muss es auf einem bloßen Nichts beruhen, und darin ist auch die größte
Möglichkeit, die es geben kann. Nimm dafür ein Gleichnis aus der Natur. Will ich
auf eine weiße Tafel schreiben, so kann etwas, das auf der Tafel geschrieben
steht, noch so erhaben sein, es stört mich doch, weil ich nicht darauf schreiben
kann; und wenn ich schreiben will, so muss ich alles auslöschen, was auf der
Tafel steht, und die Tafel passt mir dann am besten zum Schreiben, wenn nichts
darauf steht. Ebenso ist es, wenn Gott aufs Allerhöchste in mein Herz schreiben
will, dann muss alles aus dem Herzen heraus, was dies oder das geheißen ist, und
so steht es um das abgeschiedene Herz. Daher mag dann Gott aufs Allerhöchste
seinen obersten Willen wirken, und so ist des abgeschiedenen Herzens Aufgabe
weder dies noch das. Nun frage ich aber: Was ist des abgeschiedenen Herzens
Gebet? Ich antworte: Abgeschiedenheit und Reinheit kann nicht bitten, denn wer
bittet, der begehrt etwas von Gott, was ihm zuteil werde oder was Gott ihm
abnehmen soll. Nun begehrt aber das abgeschiedene Herz nach nichts und hat auch
nichts, dessen es gerne ledig wäre. Darum ist es allen Gebets entledigt, und
sein Gebet ist nichts anderes als mit Gott einförmig. In diesem Sinne können wir
das Wort nehmen, das Dionysius über Sankt Pauls Wort spricht: »Es sind ihrer
viel, die alle nach der Krone laufen, und sie wird doch nur einem zuteil.« Alle
Kräfte der Seele laufen nach der Krone, und sie wird doch allein dem Wesen
zuteil. Dazu also sagt Dionysius: Der Lauf ist nichts anderes als ein Abwenden
von allen Kreaturen und ein Vereinigen mit der Ungeschaffenheit. Und wenn die
Seele dazu kommt, dann verliert sie ihren Namen und zieht Gott in sich, dass sie
an sich selbst zunichte wird, wie die Sonne das Morgenrot anzieht, dass es
zunichte wird. Dazu bringt den Menschen nichts als reine Abgeschiedenheit.
Hierher kann auch das Wort, das Sankt Augustin spricht, passen: Die Seele hat
einen himmlischen Eingang in die göttliche Natur, wo ihr alle Dinge zunichte
werden. Dieser Eingang ist auf Erden nichts anderes als reine Abgeschiedenheit.
Und wenn die Abgeschiedenheit aufs Höchste kommt, so wird sie aus Bewusstsein
bewusstlos und aus Liebe lieblos und vor Licht finster. Darum können wir auch
annehmen, was ein Meister spricht: Selig sind die Armen des Geistes, die Gott
alle Dinge gelassen haben, wie er sie hatte, als wir nicht waren. Dass Gott in
einem abgeschiedenen Herzen lieber ist als in allen anderen Herzen, das merken
wir daran: Wenn du mich fragst, was Gott in allen Dingen suche, so antworte ich
dir aus dem Buche der Weisheit, wo er spricht: »In allen Dinge suche ich Ruhe.«
Es ist aber nirgends ganze Ruhe als allein in dem abgeschiedenen Herzen. Es kann
sich aber kein Mensch für das göttliche Einfließen anders empfänglich machen als
dadurch, dass er mit Gott einförmig wird, denn je nachdem ein Mensch mit Gott
einförmig ist, ist er des göttlichen Einfließens empfänglich. Daher scheidet die
Bilder ab, und einigt euch mit formlosem Wesen, denn Gottes geistiger Trost ist
zart, darum will er sich niemandem bieten als dem, der leiblichen Trost
verschmäht.
Nun höret, vernünftige Leute allesamt: Es ist niemand fröhlicher,
als wer in der größten Abgeschiedenheit steht. Es kann keine leibliche oder
fleischliche Lust ohne geistigen Schaden sein; wer darum im Fleisch ungeordnete
Liebe sät, der ruft den Tod herbei; und wer im Geist ordentliche Liebe sät, der
erntet im Geist das ewige Leben. Je mehr daher der Mensch vor dem Geschöpf
flieht, umso mehr läuft ihm der Schöpfer nach. Daher ist Abgeschiedenheit das
Allerbeste, denn sie reinigt die Seele und läutert das Gewissen und entzündet
das Herz und erweckt den Geist und spornt die Begierde und vergoldet die Tugend
und lässt Gott erkennen und scheidet die Kreatur ab und vereinigt sie mit Gott;
denn die von Gott getrennte Liebe ist wie das Wasser im Feuer und die mit ihm
vereinigte Liebe ist wie der Waben im Honig. Nun passt auf, vernünftige Geister
allesamt! Das schnellste Tier, das euch zur Vollkommenheit trägt, ist Leiden,
denn es genießt niemand mehr der ewigen Seligkeit, als wer mit Christus in der
größten Bitternis steht. Es gibt nichts Galligeres als Leiden und nichts Honigsameres als Gelittenhaben. Das sicherste Fundament, worauf die
Vollkommenheit beruhen kann, ist Demut, denn wessen Natur hier in der tiefsten
Niedrigkeit kriecht, dessen Geist fliegt auf in das Höchste der Gottheit. Denn
Freude bringt Leid und Leid bringt Freude. Der Menschen Tun ist vielerlei: Der
eine lebt so, der andere anders. Wer in dieser Zeit zum höchsten Leben kommen
will, der nehme mit kurzen Worten aus dieser ganzen Schrift die Lehre, mit der
ich schließe:
Halte dich abgeschieden von allen Menschen, halte dich rein von
allen eingezogenen Bildern, befreie dich von alledem, was Unfall, Haft und
Kummer bringen kann, und richte dein Gemüt allzeit auf ein tugendhaftes Schauen,
in dem du Gott in deinem Herzen trägst als stetes Ziel, von dem deine Augen
niemals ablassen; und was andere Übungen angeht als Fasten, Wachen, Beten, die
richte darauf als auf ihren Zweck und habe so viel davon, als sie dich dazu
fördern können, so erreichst du das Ziel der Vollkommenheit. Nun könnte jemand
sagen: Wer könnte den unverwandten Anblick des göttlichen Vorbildes aushalten?
Darauf antworte ich: Niemand, der heutzutage lebt. Es ist dir allein darum
gesagt, damit du weißt, was das Höchste ist und wonach du trachten und begehren
sollst. Wenn aber dieser Anblick dir entzogen wird, so soll dir, wenn du ein
guter Mensch bist, zumute sein, als ob dir deine ewige Seligkeit genommen wäre,
und du sollst bald zu ihm wiederkehren, damit er dir wieder werde, und du sollst
allezeit auf dich selbst Acht haben, und dein Ziel und deine Zuflucht soll darin
sein, so sehr es dir möglich ist. Herr, gelobt seist du ewiglich. Amen.
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