Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
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Von den Stufen der Seele
Wer zu seiner höchsten Stufe und zur Anschauung des obersten Gutes, das
Gott selbst ist, gelangen will, der soll ein Kennen seiner selbst und der Dinge,
die über ihm sind, haben bis zum höchsten, so kommt er zur höchsten reinen
Erkenntnis. Darum, lieber Mensch, lerne dich selbst erkennen, denn das ist dir
besser, als wenn du die Kraft aller Kreaturen erkenntest. Wie du dich selbst
erkennen sollst, dafür merke zweierlei Weise.
Zum Ersten sollst du darauf achten, ob deine äußeren Sinne an ihrer
Stelle wohlgeordnet sind. Seht! Nun merkt, wie es um unsere äußeren Sinne steht:
Die Augen sind allzeit ebenso bereit, das Böse zu sehen wie das Gute. Ebenso ist
das Gute auch von den Ohren zu hören, und ebenso können auch die anderen Sinne
wahrnehmen. Daher sollt ihr euch eifrig und mit großem Ernst zu guten Dingen
zwingen. Soviel von den äußeren Sinnen.
Nun vernehmet von den inneren Sinnen, das sind die Kräfte einer
höheren Stufe, die in der Seele sind, die niedersten und die obersten. Nun
erfahret von den niedersten Kräften. Die sind Mittel der obersten Kräfte und der
äußeren Sinne. Darum sind sie den äußeren Sinnen so nahe gelegen: Was das Auge
sieht und das Ohr hört, das bringen sie sofort in das Begehren. Ist es dann eine
geordnete Sache, so bringt das Begehren es sofort in eine zweite Kraft, die
heißt Anschauung. Die schaut es an und bringt es wiederum weiter zur dritten, die
heißt Vernünftigkeit. So wird es immer reiner, bevor es in die obersten Kräfte
kommt. Die Kraft der Seele steht auf so hoher Stufe, dass sie es ohne Gleichnis
und ohne Bild wahrnimmt und es in die obersten Kräfte hinaufträgt. Da wird es im
Gedächtnis aufbewahrt und im Verstande verstanden und im Willen erfüllt. Das
sind die obersten Kräfte der Seele und sie sind in einer Natur. Und alles, was
die Seele wirkt, das wirkt auch die einfache Natur in den Kräften.
Nun merkt auf, wie die Seele zu ihrer obersten Stufe und ihrer
größten Vollendung kommt. Es sagt ein Meister: Gott wird in die Seele getragen
und versetzt. So entspringt ein göttlicher Liebesquell in der Seele, der trägt
die Seele zu Gott zurück. Seht, ihr sollt erfahren, wie das sei. Es sagt ein
Heiliger: Alles, was man von Gott sprechen kann, das ist Gott nicht. Und es
spricht ein anderer Heiliger: Alles, was man von Gott sprechen kann, das ist
Gott. Und endlich spricht ein großer Meister, dass sie beide die Wahrheit sagen.
Wie diese drei Heiligen sprechen, so spreche ich das Folgende: Wenn die Seele
mit ihrem Verstande etwas vom göttlichen Verstande versteht, so wird es dann
sofort dem Willen übergeben. So nimmt es der Wille in sich und wird eins damit
und alsdann erst bringt und versetzt er es in das Gedächtnis. Auf diese Weise
wird Gott in die Seele getragen und versetzt. Fürwahr, nun vernehmet von dem
göttlichen Liebesquell. Er fließt in der Seele über, sodass sich die obersten
Kräfte in die niedersten ergießen, und diese ergießen sich in den äußeren
Menschen und erheben ihn aus aller Niedrigkeit, sodass er nichts wirken mag als
geistige Dinge. Wie der Geist wirkt gemäß göttlichen Werken, so muss der äußere
Mensch gemäß dem Geiste wirken.
O Wunder über Wunder, wenn ich an die Vereinigung denke, die die
Seele mit Gott hat! Er macht die Seele wonnefreudig, aus sich selbst zu fließen,
denn alle genannten Dinge genügen ihr nicht. Und da sie selbst eine genannte
Natur ist, darum genügt sie sich selbst nicht. Der göttliche Liebesquell fließt
auf die Seele und zieht sie aus sich selbst in das ungenannte Wesen in ihren
ersten Ursprung, der Gott allein ist. Obwohl ihm die Kreatur Namen gegeben hat,
so ist er doch an sich selbst ein ungenanntes Wesen. So kommt die Seele in ihre
höchste Vollendung.
Fürwahr, Herzensfreunde, nun höret weiter von den Stufen der Seele.
Es sagt Sankt Augustin: Gerade wie es um Gott ist, so ist es auch um die Seele.
Seht, wie sie gebildet ist nach dem Bild der heiligen Dreifaltigkeit, das
erfahret bei der Auslegung Gottes.
Gott ist dreifach von Personen und ist einfach von Natur, Gott ist
auch an allen Orten und an jedem ist Gott zugleich. Das heißt so viel, als ob
alle Orte ein Ort Gottes wären. So steht es auch um die Seele. Gott hat
Vorsehung aller Dinge und bildet alle Dinge in seiner Vorsehung. Das alles ist
Gott natürlich. So steht es auch um die Seele. Sie ist auch dreifach an Kräften
und einfach von Natur. Die Seele ist auch in allen Gliedmaßen, und in jedem
Glied ist sie zugleich. Daher sind alle Glieder ein Ort der Seele. Sie hat auch
Vorsehung und bildet die Dinge, die ihr möglich sind. Von allem, was man von
Gott sprechen kann, hat die Seele etwas Gleichnis.
Nun will ich sprechen von einer reinen Gotteserkenntnis. Ich habe
euch im Auge, Bruder und Schwester, weil ihr Gottes allerbeste Freunde seid und
ihm allertrautest von allen, die hier zuhören. Das Fließen ist in der Gottheit
eine Einheit der drei Personen ohne Unterscheidung. In demselben Fluss fließt
der Vater in den Sohn, und der Sohn fließt zurück in den Vater, und sie beide
fließen in den heiligen Geist, und der heilige Geist fließt zurück in sie beide.
Darum spricht der Vater seinen Sohn und spricht sich in seinem Sohne allen
Kreaturen, alles in diesem Fließen. Wo sich der Vater wieder in sich
zurückwendet, da spricht er sich selbst in sich selbst. Auf diese Weise ist der
Fluss in sich selbst zurückgeflossen, wie Sankt Dionysius sagt. Darum ist dieser
Fluss in der Gottheit ein Sprechen ohne Wort und ohne Laut, ein Hören ohne
Ohren, ein Sehen ohne Augen. Darum spricht sich jede Person in der andern ohne
Wort in dem Flusse. Darum ist es ein Fluss ohne Fließen. Hiervon vernehmet ein
Gleichnis von der edeln Seele, die hat etwas in sich, was diesem Fluss besonders
gleich ist: Wo die obersten Kräfte und die Natur eine Eigenschaft tragen, da
fließt jede in die andere und spricht sich ohne Worte und ohne Laut. Selig sei
die Seele, die da zur Anschauung des ewigen Lichtes kommt.
Nun könnte man sprechen: »Das ist alles schön und wohl gesprochen.
Herzensfreund, wie geschieht das nun, dass ich zu der Stufe gelange, von der du
geschrieben hast?« Seht, ihr müsst wissen: Gott ist, was er ist, und was er ist,
ist mein, und was mein ist, das liebe ich, und was ich liebe, das liebt mich und
zieht mich an sich, und was mich angezogen hat, dem gehöre ich mehr als mir
selbst. Seht, darum liebet Gott, dann werdet ihr Gott mit Gott. Davon will ich
nichts weiter sagen.
Die auf sich selbst verzichtet haben und Gott in der rechten
Entblößtheit nachfolgen, wie könnte das Gott lassen, er muss ja seine Gnade in
die Seele gießen, die sich so in der Liebe vernichtet hat. Er gießt seine Gnade
in sie und erfüllt sie und gibt sich ihr selbst in Gnaden hin. Da schmückt Gott
die Seele mit sich selbst, gerade wie das Gold mit edlem Gestein geschmückt
wird. Dann bringt er die Seele in die Anschauung seiner Gottheit. Das geschieht
in der Ewigkeit und nicht in der Zeit. Doch hat sie einen Vorgeschmack in der
Zeit dadurch, dass hier von diesem heiligen Leben gesprochen worden ist. Das
ist darum geschehen, damit ihr das wisst, dass niemand zur höchsten Stufe der
Erkenntnis und des Lebens gelangen kann, ohne freiwilliger Armut nachzugehen und
den Armen gleich zu sein. Das ist für alle Leute das Allerbeste. Nun loben wir
Gott um seiner ewigen Güte willen und bitten ihn, er möge uns schließlich bei
sich aufnehmen. Dazu verhelfe uns der Vater und der Sohn und der heilige Geist.
Amen.
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