Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer


Predigten

Vom Schweigen
Vom Unwissen
Von der Dunkelheit
Von stetiger Freude
Von der Stadt der Seele
Vom namenlosen Gott
Vom innersten Grunde
Von der Vollendung der Zeit
Ein Zweites vom namenlosen Gott
Von guten Gaben
Von unsagbaren Dingen
Vom Leiden Gottes
Von der Einheit der Dinge
Wie Jesus an dem Stricke zog
Von der Erkenntnis Gottes
Von der Armut
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Von der Erneuerung des Geistes
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Vom Tod
Was ist Gott?
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Traktate

Von den Stufen der Seele
Gespräch zwischen Schwester
   Kathrei und dem Beichtvater

Von der Abgeschiedenheit
Von der Überfreude
Die Seele auf der Suche nach Gott
Von der Überfahrt zur Gottheit
Vom Zorn der Seele

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Von den Stufen der Seele

Wer zu seiner höchsten Stufe und zur Anschauung des obersten Gutes, das Gott selbst ist, gelangen will, der soll ein Kennen seiner selbst und der Dinge, die über ihm sind, haben bis zum höchsten, so kommt er zur höchsten reinen Erkenntnis. Darum, lieber Mensch, lerne dich selbst erkennen, denn das ist dir besser, als wenn du die Kraft aller Kreaturen erkenntest. Wie du dich selbst erkennen sollst, dafür merke zweierlei Weise.
   Zum Ersten sollst du darauf achten, ob deine äußeren Sinne an ihrer Stelle wohlgeordnet sind. Seht! Nun merkt, wie es um unsere äußeren Sinne steht: Die Augen sind allzeit ebenso bereit, das Böse zu sehen wie das Gute. Ebenso ist das Gute auch von den Ohren zu hören, und ebenso können auch die anderen Sinne wahrnehmen. Daher sollt ihr euch eifrig und mit großem Ernst zu guten Dingen zwingen. Soviel von den äußeren Sinnen.
   Nun vernehmet von den inneren Sinnen, das sind die Kräfte einer höheren Stufe, die in der Seele sind, die niedersten und die obersten. Nun erfahret von den niedersten Kräften. Die sind Mittel der obersten Kräfte und der äußeren Sinne. Darum sind sie den äußeren Sinnen so nahe gelegen: Was das Auge sieht und das Ohr hört, das bringen sie sofort in das Begehren. Ist es dann eine geordnete Sache, so bringt das Begehren es sofort in eine zweite Kraft, die heißt Anschauung. Die schaut es an und bringt es wiederum weiter zur dritten, die heißt Vernünftigkeit. So wird es immer reiner, bevor es in die obersten Kräfte kommt. Die Kraft der Seele steht auf so hoher Stufe, dass sie es ohne Gleichnis und ohne Bild wahrnimmt und es in die obersten Kräfte hinaufträgt. Da wird es im Gedächtnis aufbewahrt und im Verstande verstanden und im Willen erfüllt. Das sind die obersten Kräfte der Seele und sie sind in einer Natur. Und alles, was die Seele wirkt, das wirkt auch die einfache Natur in den Kräften.
   Nun merkt auf, wie die Seele zu ihrer obersten Stufe und ihrer größten Vollendung kommt. Es sagt ein Meister: Gott wird in die Seele getragen und versetzt. So entspringt ein göttlicher Liebesquell in der Seele, der trägt die Seele zu Gott zurück. Seht, ihr sollt erfahren, wie das sei. Es sagt ein Heiliger: Alles, was man von Gott sprechen kann, das ist Gott nicht. Und es spricht ein anderer Heiliger: Alles, was man von Gott sprechen kann, das ist Gott. Und endlich spricht ein großer Meister, dass sie beide die Wahrheit sagen. Wie diese drei Heiligen sprechen, so spreche ich das Folgende: Wenn die Seele mit ihrem Verstande etwas vom göttlichen Verstande versteht, so wird es dann sofort dem Willen übergeben. So nimmt es der Wille in sich und wird eins damit und alsdann erst bringt und versetzt er es in das Gedächtnis. Auf diese Weise wird Gott in die Seele getragen und versetzt. Fürwahr, nun vernehmet von dem göttlichen Liebesquell. Er fließt in der Seele über, sodass sich die obersten Kräfte in die niedersten ergießen, und diese ergießen sich in den äußeren Menschen und erheben ihn aus aller Niedrigkeit, sodass er nichts wirken mag als geistige Dinge. Wie der Geist wirkt gemäß göttlichen Werken, so muss der äußere Mensch gemäß dem Geiste wirken.
   O Wunder über Wunder, wenn ich an die Vereinigung denke, die die Seele mit Gott hat! Er macht die Seele wonnefreudig, aus sich selbst zu fließen, denn alle genannten Dinge genügen ihr nicht. Und da sie selbst eine genannte Natur ist, darum genügt sie sich selbst nicht. Der göttliche Liebesquell fließt auf die Seele und zieht sie aus sich selbst in das ungenannte Wesen in ihren ersten Ursprung, der Gott allein ist. Obwohl ihm die Kreatur Namen gegeben hat, so ist er doch an sich selbst ein ungenanntes Wesen. So kommt die Seele in ihre höchste Vollendung.
   Fürwahr, Herzensfreunde, nun höret weiter von den Stufen der Seele. Es sagt Sankt Augustin: Gerade wie es um Gott ist, so ist es auch um die Seele. Seht, wie sie gebildet ist nach dem Bild der heiligen Dreifaltigkeit, das erfahret bei der Auslegung Gottes.
   Gott ist dreifach von Personen und ist einfach von Natur, Gott ist auch an allen Orten und an jedem ist Gott zugleich. Das heißt so viel, als ob alle Orte ein Ort Gottes wären. So steht es auch um die Seele. Gott hat Vorsehung aller Dinge und bildet alle Dinge in seiner Vorsehung. Das alles ist Gott natürlich. So steht es auch um die Seele. Sie ist auch dreifach an Kräften und einfach von Natur. Die Seele ist auch in allen Gliedmaßen, und in jedem Glied ist sie zugleich. Daher sind alle Glieder ein Ort der Seele. Sie hat auch Vorsehung und bildet die Dinge, die ihr möglich sind. Von allem, was man von Gott sprechen kann, hat die Seele etwas Gleichnis.
   Nun will ich sprechen von einer reinen Gotteserkenntnis. Ich habe euch im Auge, Bruder und Schwester, weil ihr Gottes allerbeste Freunde seid und ihm allertrautest von allen, die hier zuhören. Das Fließen ist in der Gottheit eine Einheit der drei Personen ohne Unterscheidung. In demselben Fluss fließt der Vater in den Sohn, und der Sohn fließt zurück in den Vater, und sie beide fließen in den heiligen Geist, und der heilige Geist fließt zurück in sie beide. Darum spricht der Vater seinen Sohn und spricht sich in seinem Sohne allen Kreaturen, alles in diesem Fließen. Wo sich der Vater wieder in sich zurückwendet, da spricht er sich selbst in sich selbst. Auf diese Weise ist der Fluss in sich selbst zurückgeflossen, wie Sankt Dionysius sagt. Darum ist dieser Fluss in der Gottheit ein Sprechen ohne Wort und ohne Laut, ein Hören ohne Ohren, ein Sehen ohne Augen. Darum spricht sich jede Person in der andern ohne Wort in dem Flusse. Darum ist es ein Fluss ohne Fließen. Hiervon vernehmet ein Gleichnis von der edeln Seele, die hat etwas in sich, was diesem Fluss besonders gleich ist: Wo die obersten Kräfte und die Natur eine Eigenschaft tragen, da fließt jede in die andere und spricht sich ohne Worte und ohne Laut. Selig sei die Seele, die da zur Anschauung des ewigen Lichtes kommt.
   Nun könnte man sprechen: »Das ist alles schön und wohl gesprochen. Herzensfreund, wie geschieht das nun, dass ich zu der Stufe gelange, von der du geschrieben hast?« Seht, ihr müsst wissen: Gott ist, was er ist, und was er ist, ist mein, und was mein ist, das liebe ich, und was ich liebe, das liebt mich und zieht mich an sich, und was mich angezogen hat, dem gehöre ich mehr als mir selbst. Seht, darum liebet Gott, dann werdet ihr Gott mit Gott. Davon will ich nichts weiter sagen.
   Die auf sich selbst verzichtet haben und Gott in der rechten Entblößtheit nachfolgen, wie könnte das Gott lassen, er muss ja seine Gnade in die Seele gießen, die sich so in der Liebe vernichtet hat. Er gießt seine Gnade in sie und erfüllt sie und gibt sich ihr selbst in Gnaden hin. Da schmückt Gott die Seele mit sich selbst, gerade wie das Gold mit edlem Gestein geschmückt wird. Dann bringt er die Seele in die Anschauung seiner Gottheit. Das geschieht in der Ewigkeit und nicht in der Zeit. Doch hat sie einen Vorgeschmack in der Zeit dadurch, dass hier von diesem heiligen Leben gesprochen worden ist. Das ist darum geschehen, damit ihr das wisst, dass niemand zur höchsten Stufe der Erkenntnis und des Lebens gelangen kann, ohne freiwilliger Armut nachzugehen und den Armen gleich zu sein. Das ist für alle Leute das Allerbeste. Nun loben wir Gott um seiner ewigen Güte willen und bitten ihn, er möge uns schließlich bei sich aufnehmen. Dazu verhelfe uns der Vater und der Sohn und der heilige Geist. Amen.