Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
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Von Gott und der Welt
Das Allerhöchste, das Gott dem Menschen je tat, das war, dass er Mensch
ward. Davon will ich eine Geschichte erzählen, die wohl hierher gehört: Es war
ein reicher Mann und eine reiche Frau, da stieß der Frau das Unglück zu, dass
sie ein Auge verlor, dessen ward sie sehr betrübt. Da kam der Herr zu ihr und
sprach: »Frau, warum seid ihr so betrübt? Ihr sollt darüber nicht betrübt sein,
dass ihr euer Auge verloren habt.« Da sprach sie: »Herr, ich bin nicht darum
betrübt, weil ich mein Auge verloren habe; ich bin darum betrübt, weil es mich
dünkt, ihr müsstet mich nun weniger lieb haben.« Da sprach er: »Frau, ich habe
euch lieb.« Danach, nicht lange nachher, stach er sich selbst ein Auge aus und kam
zu der Frau und sprach: »Frau, damit ihr nun glaubt, dass ich euch lieb habe,
habe ich mich euch gleich gemacht: Ich habe nun auch nur ein Auge.«
Die Meister sagen: Alle Kreaturen wirken daraufhin, dass sie
gebären und sich dem Vater gleich machen wollen. Ein anderer Meister sagt: Jede
wirkende Ursache wirkt allein um ihres Zweckes willen, dass sie Rast und Ruhe in
ihrem Zwecke finde. Dies ist der Mensch, der konnte gar schwerlich glauben, dass
ihn Gott so lieb hat, bis Gott endlich sich selbst ein Auge ausstach und
menschliche Natur annahm. Dies ist Fleisch geworden.
In principio. Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben.
Ein Meister sagt: Alle Kreaturen wirken nach ihrer ersten Lauterkeit und ihrer
allergrößten Vollkommenheit. Also hat Gott getan. Er hat die Seele nach der
allerhöchsten Vollkommenheit geschaffen und hat in sie gegossen alle seine
Klarheit in der reinen Erstheit und ist doch unvermischt geblieben.
Nun merke! Ich sprach neulich an einem Ort: Als Gott alle Kreaturen
schuf, sollte er da nicht vorher etwas geschaffen haben, das ungeschaffen war,
das Bilder aller Kreaturen in sich trug? Das ist der Funke, der ist Gott so
nahe, dass er ein einiges ungeschiedenes Eins ist und das Bild aller Kreaturen
ohne Bild und über Bild in sich trägt.
Eine Frage ward gestern unter den großen Gelehrten erörtert: Mich
wundert, sprach ich, dass niemand das allergeringste Wort ergründen kann, und
fragt ihr mich, ob ich, wenn ich ein einziger Sohn bin, den der himmlische Vater
ewiglich geboren hat, dann ewiglich Sohn gewesen sei, so antworte ich: ja und
nein. Ja, ein Sohn: indem der Vater mich ewiglich geboren hat; und nicht Sohn:
entsprechend der Ungeborenheit. In principio. Hier ist uns zu verstehen gegeben,
dass wir ein einziger Sohn sind, den der Vater ewiglich aus dem verborgenen
Verstand der ewigen Verborgenheit geboren hat, indem er im ersten Beginn der
reinen Erstheit blieb, die da eine Fülle aller Reinheit ist. Hier habe ich
ewiglich geruht und geschlafen in der verborgenen Erkenntnis des ewigen Vaters,
innen bleibend, ungesprochen. Aus der Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren
und als seinen eingeborenen Sohn selber in das Bild seiner ewigen Vaterschaft,
damit ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin. In gleicher Weise,
als ob einer vor einem hohen Berg stünde und riefe: »Bist du da?«, und der
Schall und der Hall riefe wieder: »Bist du da?« Oder er spräche: »Komm heraus!«,
und der Schall antwortete: »Komm heraus!« Ja, wer in dem Lichte das Holz sähe,
da entstünde ein Engel und ein Vernünftiger und nicht allein vernünftig, es
würde lauter Vernunft in der reinen Erstheit, die da eine Erfüllung aller
Reinheit ist. So tut Gott: Er gebiert seinen eingeborenen Sohn in das höchste
Teil der Seele. Und während er seinen Sohn in mich gebiert, gebäre ich ihn
wieder in dem Vater. Das war nicht anders, als dass Gott den Engel gebar,
während er, der Gott, von der Jungfrau geboren wurde.
Ich dachte [es ist schon manches Jahr her], wenn ich gefragt würde,
wieso jede Grasspinne der andern so ungleich wäre, dann antwortete ich: Dass
alle Grasspinnen so gleich sind, das ist noch wunderbarer. Ein Meister sprach:
Dass alle Grassspinnen so ungleich sind, das kommt von der Verschwendung der
göttlichen Güte, die er verschwenderisch in alle Kreaturen gießt, damit seine
Herrlichkeit desto mehr offenbart werde. Da sprach ich: Es ist wunderbarer, dass
alle Grasspinnen so gleich sind, und sprach: Wie alle Engel in der reinen
Erstheit alleins sind, so sind alle Grasspinnen in der reinen Erstheit alleins,
und alle Dinge sind alleins.
Ich dachte manchmal, wenn ich mich im Freien erging, der Mensch
könne mit der Zeit dazu kommen, dass er Gott zwingen kann. Wäre ich hier oben
und spräche zu ihm: »Komm herauf!«, das wäre schwer. Aber spräche ich: »Setz
dich hier nieder!«, das wäre leicht. So tut Gott. Wenn der Mensch sich demütigt,
so kann Gott in seiner Güte sich nicht enthalten, er muss sich neigen und in den
demütigen Menschen ergießen, und dem Allergeringsten gibt er sich mit seinem
Allermeisten und gibt sich ganz und gar. Was Gott gibt, das ist sein Wesen, und
sein Wesen ist seine Güte, und seine Güte ist seine Liebe. Alles Leid und alle
Freude kommt von der Liebe.
Ich überlegte unterwegs, als ich hierher gehen wollte, ich sollte
zu Hause bleiben, ich würde doch nass vor Liebe. Wenn auch ihr nass geworden
seid, so wollen wir es sein lassen. – Freude und Leid kommen von der Liebe. Der
Mensch soll Gott lieben, denn Gott liebt den Menschen mit all seiner höchsten
Vollkommenheit. Die Meister sagen, alle Dinge wirken daraufhin, dass sie sich
dem Vater gleich gebären wollen, und sagen: Die Erde flieht den Himmel; flieht
sie niederwärts, so kommt sie niederwärts zum Himmel; flieht sie aufwärts, so
kommt sie zu dem Niedersten des Himmels. Die Erde kann dem Himmel nicht
entfliehen: Sie fliehe auf oder nieder, der Himmel fließt in sie und drückt
seine Kraft in sie und macht sie fruchtbar, es sei ihr lieb oder leid. So tut
Gott dem Menschen: Der ihm entfliehen möchte, der läuft ihm in den Schoß, denn
ihm sind alle Winkel offen. Gott gebiert seinen Sohn in dir, es sei dir lieb
oder leid, du schlafest oder wachest, Gott tut das Seine. Dass der Mensch das
nicht empfindet, das liegt daran, dass seine Zunge mit dem Unflat der Kreatur
beschmutzt ist und das Salz der göttlichen Liebe nicht hat. Hätten wir die
göttliche Liebe, so schmeckten wir Gott und alle die Werke, die Gott je wirkte,
und wir empfingen alle Dinge von Gott und wirkten dieselben Werke alle, die er
wirkt. In dieser Gleichheit sind wir alle ein einziger Sohn.
Gott schuf die Seele nach seiner höchsten Vollkommenheit, dass sie
eine Geburt seines eingeborenen Sohnes sein sollte. Da er dies wohl erkannte, so
wollte er herausgehen aus der heimlichen Schatzkammer seiner ewigen Vaterschaft,
in der er im ersten Beginn der reinen Erstheit geblieben war und ewig geschlafen
und herausgesprochen hat. Da hat der Sohn das Zelt seiner ewigen Glorie
aufgeschlagen und ist herausgekommen aus dem Allerhöchsten, weil er seine
Freundin holen wollte, die ihm der Vater ewiglich vermählt hatte, dass er sie
heimbrächte in das Allerhöchste, aus dem sie gekommen ist. Darum ging er hinaus
und sprang herzu wie ein Jüngling und litt Leid aus Liebe. Aber nicht für immer
ging er hinaus, er wollte wieder hineingehen in seine Kammer, das heißt in die
stille Dunkelheit der verborgenen Vaterschaft. Als er ausging aus dem
Allerhöchsten, da wollte er hineingehen mit seiner Braut und wollte ihr die
verborgene Heimlichkeit seiner Gottheit offenbaren, wo er mit sich selbst und
mit allen Kreaturen ruht.
In principio heißt so viel wie ein Anfang allen Wesens. Es gibt
auch ein Ende alles Wesens, denn der erste Beginn ist um des letzten Endes
willen. Ja, Gott selbst ruht nicht da, wo er der erste Beginn ist, sondern er
ruht da, wo er ein Zweck und ein Ende ist und ein Rasten alles Wesens, nicht
dass dies Wesen da zunichte würde, sondern es wird da vollendet zu seiner
höchsten Vollkommenheit. Was ist das letzte Ende? Es ist die Verborgenheit der
Dunkelheit der ewigen Gottheit und ist unbekannt und ward nie erkannt und wird
niemals erkannt. Gott bleibt darin sich selbst unbekannt, und das Licht des
ewigen Vaters hat ewiglich darin geschienen, und die Dunkelheit begreift das
Licht nicht. Dass wir zu dieser Wahrheit kommen, dazu verhelfe uns die Wahrheit,
von der wir gesprochen haben. Amen.
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