Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer


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Wie Jesus an dem Stricke zog

Nemo potest ad me venire, nisi pater meus traxerit eum. [Joh 6,44] Diese Worte hat unser Herr Jesus Christus mit seinem süßen Mund im Evangelium gesprochen und sie bedeuten: »Niemand kann zu mir kommen, als den mein Vater ziehet.«
   Nun sollen wir wissen, bevor unser Herr Jesus Christus geboren wurde, zog der himmlische Vater aus aller Kraft fünftausendzweihundert Jahre lang, ohne dass er einen einzigen Menschen ins Himmelreich ziehen konnte. Als nun der Sohn sah, dass der Vater sich abgemüht und so kräftig gezogen und doch nichts geschafft hatte, da sprach er zu dem Vater: »Ich will sie mit den Seilen Adams ziehen«, gerade als ob er sagte: Ich sehe wohl, Vater, dass du mit aller deiner Kraft nichts schaffen kannst; darum will ich mit meiner Weisheit sie an den Seilen Adams ziehen. Daher ließ der Sohn sich hernieder vom Himmelreich in den Leib unserer Frau und nahm da alle unsere leiblichen Gebrechen an sich, aber ohne die Sünde und die Unvernunft, in die uns Adam geworfen hatte, und machte ein Seil aus allen seinen Worten und seinen Werken und all seinen Gliedmaßen und seinen Adern und zog in all seiner Weisheit so sehr von Herzen, dass am Ende blutiger Schweiß aus seinem heiligen Leib herausbrach. Und als er dreiunddreißig Jahre lang gezogen hatte, ohne etwas zu schaffen, da sah er doch schon die Bewegung und Loslösung aller Dinge; die wollten ihm folgen. Daher sprach er: »Würde ich an das Kreuz erhöht, so zöge ich alle Dinge zu mir.« Daher ward er ans Kreuz gespannt und legte allen seinen Glanz und alles, was ihn am Ziehen hätte hindern können, ab.
   Nun gibt es drei Dinge, die von Natur ziehen, und die hatte er alle bei sich am Kreuze. Daher zog er an einem Vormittag mehr als vorher in dreiunddreißig Jahren. Das erste Ding, das natürlich an sich zieht: die Gleichheit, wie wir sehen, dass der Vogel den Vogel anzieht, der ihm von Natur aus gleich ist. Mit dieser Gottheit und Gleichheit zog er den himmlischen Vater zu sich, denn der ist ihm gleich an Gottheit. Um ihn desto mehr an sich zu ziehen, damit er seines Zornes vergesse, spricht er: »Herzliebster Vater, weil du die Sünde trotz all der Opfer, die dir im alten Bund gebracht wurden, nie vergeben wolltest, so sage ich, mein Vater, deines Herzens eingeborener Sohn, der dir in allen Stücken an Gottheit gleich ist und in dem du allen Schatz göttlicher Liebe und Reichtums geboren hast: Ich komme an das Kreuz, auf dass ich vor deinen Vateraugen ein lebendiges Opfer werde, dass du die Augen deiner väterlichen Barmherzigkeit senkst und mich ansiehst, deinen eingeborenen Sohn; und schau mein Blut an, das aus meinen Wunden fließt und lisch das feurige Schwert aus, mit dem du in der Hand des Engels Cherubim den Weg zum Paradies verschlossen hast, damit jetzt alle frei hineingehen können, die in mir ihre Sünde bereuen und beichten und büßen.«
   Das zweite, was natürlich zieht, ist ein leerer Raum, wie wir sehen, dass das Wasser, wenn man die Luft aus einem Rohr herauszieht, bis an den Mund hinaufläuft, denn wenn die Luft hinausgeht, ist das Rohr leer; die Leere zieht dann das Wasser an sich. Also machte sich unser Herr Jesus Christus leer, als er mit seiner Weisheit alle Dinge an sich ziehen wollte, denn er ließ alles Blut ausfließen, das in seinem Körper war, und dadurch zog er alle Barmherzigkeit und Gnade, die im Herzen seines Vaters war, so vollständig und so reichlich an sich, dass es für die ganze Welt genug war. Darum sprach der Vater: »Meine Barmherzigkeit will ich nimmer vergessen« und sprach weiter: »Mein Sohn, nun sei kühn und stark, denn du sollst das Volk allesamt in das Land geleiten, das ich verheißen habe, in das Land himmlischer Freuden, das da überfließt vom Honig meiner ewigen Gottheit und von der Milch deines Menschtums.«
   Drittens ziehen heiße Dinge, wie wir sehen, dass die Sonne den Dampf von der Erde zum Himmel hinaufzieht; daher ward auch unser Herr Jesus Christus am Kreuze heiß und hitzig, denn sein Herz brannte am Kreuze wie eine Feueresse oder ein Ofen, wo die Flammen an allen Enden hinausschlagen; so brannte er am Kreuze im Feuer der Liebe zu aller Welt. Daher zog er auch mit der Hitze seiner Liebe alle Welt an sich, denn sie gefiel ihm so sehr, dass niemand sich vor seiner Hitze bergen konnte, wie Herr David im Psalter sagt. Denn nichts, was unser Herr Jesus Christus je tat, geschah mit so großer Liebe wie die Marter, die er am Kreuze erlitt, denn da gab er seine Seele für uns und wusch unsere Sünde in seinem teuren Blute und brachte sich zum Opfer, um dem lebendigen Gott zu dienen. Daher zog er uns auch mit seiner Liebe am Kreuze allgewaltig an sich, sodass alle die, denen sein Tod und seine Marter zu Herzen gehen, mit ihm in Ewigkeit selig werden. Amen.