Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
Predigten
Vom Schweigen
Vom Unwissen
Von der Dunkelheit
Von stetiger Freude
Von der Stadt der Seele
Vom namenlosen Gott
Vom innersten Grunde
Von der Vollendung der Zeit
Ein Zweites vom namenlosen Gott
Von guten Gaben
Von unsagbaren Dingen
Vom Leiden Gottes
Von der Einheit der Dinge
Wie Jesus an dem Stricke zog
Von der Erkenntnis Gottes
Von der Armut
Von Gott und der Welt
Von der Erneuerung des Geistes
Von der Natur
Von Gott und Mensch
Vom Tod
Was ist Gott?
Vom persönlichen Wesen
Traktate
Von den Stufen der Seele
Gespräch zwischen Schwester
Kathrei und dem Beichtvater
Von der Abgeschiedenheit
Von der Überfreude
Die Seele auf der Suche nach Gott
Von der Überfahrt zur Gottheit
Vom Zorn der Seele
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Sprüche
1. Meister Eckhart spricht: Wer in allen Räumen zu Hause ist, der ist
Gottes würdig, und wer in allen Zeiten eins bleibt, dem ist Gott gegenwärtig,
und in wem alle Kreaturen zum Schweigen gekommen sind, in dem gebiert Gott
seinen eingeborenen Sohn.
2. Es spricht Meister Eckhart: Nötiger wäre ein Lebemeister als tausend
Lesemeister; aber lesen und leben ohne Gott, dazu kann niemand kommen. Wollte
ich einen Meister der Schrift suchen, den suchte ich in Paris und in den
hohen Schulen hoher Wissenschaft. Aber wollte ich nach vollkommenem Leben
fragen, davon könnte er mir nichts sagen. Wohin sollte ich dafür gehen? Allzumal
nirgends anders als in eine nackte entledigte Natur: Die könnte mir kundtun,
wonach ich sie in Ehrfurcht fragte. Leute, was sucht ihr an dem toten Gebein?
Warum sucht ihr nicht das lebendige Heil, das euch ewiges Leben geben kann? Denn
der Tote hat weder zu geben noch zu nehmen. Und sollte ein Engel Gott ohne Gott
suchen, so suchte er ihn nirgends anders als in einer entledigten, nackten,
abgeschiedenen Kreatur. Alle Vollkommenheit liegt daran, dass man Armut und
Elend und Schmach und Widerwärtigkeit und alles, was dir zustoßen und dich
bedrücken kann, willig, fröhlich, frei, begierig und bereit und unbewegt leiden
kann und bis an den Tod dabei bleiben ohne alles Warum.
3. Meister Eckhart sprach: Wem in einem anders ist als im andern und wem Gott
lieber in einem als im andern ist, der Mensch ist gewöhnlich und noch fern und
ein Kind. Aber wem Gott gleich ist in allen Dingen, der ist zum Mann geworden.
Aber wem alle Kreaturen überflüssig und fremd sind, der ist zum Rechten
gekommen.
Er ward auch gefragt: Wenn der Mensch aus sich selbst herausgehen
wollte, ob er noch um etwas Natürliches sorgen sollte? Da sprach er: Gottes
Bürde ist leicht und sein Joch ist sanft; er will es nirgends als im Willen;
und was dem trägen Menschen ein Graus ist, das ist dem hingerissenen eine
Herzensfreude. Es ist niemand Gottes voll, als wer im Grunde tot ist.
4. Gott verhängt kein Ding über uns, womit er uns nicht zu sich lockt. Ich will
Gott niemals dafür danken, dass er mich liebt, denn er kann es nicht lassen,
seine Natur zwingt ihn dazu; ich will dafür danken, dass er es in seiner Güte
nicht lassen kann, dass er mich lieben muss.
5. Meister Eckhard sprach: Ich will Gott niemals bitten, dass er sich mir
hingeben soll; ich will ihn bitten, dass er mich leer und rein mache. Denn wäre
ich leer und rein, so müsste Gott aus seiner eigenen Natur sich mir hingeben und
in mir beschlossen sein.
6. Meister Eckhart spricht: Dass wir Gott nicht zwingen, wozu wir wollen, das
liegt daran, dass uns zwei Dinge fehlen: Demut vom Grund des Herzens und
kräftiges Begehren. Ich sage das bei meinem Leben: Gott vermag in seiner
göttlichen Kraft alle Dinge, aber das vermag er nicht, dass er dem Menschen, der
diese zwei Dinge in sich hat, nicht Gewährung schenke. Darum gebt euch nicht mit
kleinen Dingen ab, denn ihr seid nicht zu Kleinem geschaffen; denn weltliche
Ehre ist nichts als eine Verwandlung und ein Irrsal der Seligkeit.
7. Meister Eckhart der Prediger sprach auch also: Es ward nie größere
Mannhaftigkeit noch Streit noch Kampf, als wenn einer sich selbst vergisst und
verleugnet.
8. Bruder Eckhart predigte und sprach: Sankt Peter sprach: Ich habe alle Dinge
gelassen. Da sprach Sankt Jakob: Wir haben alle Dinge weggegeben. Da sprach
Sankt Johannes: Wir haben gar nichts mehr. Da sprach Bruder Eckhart: Wann hat
man alle Dinge gelassen? So man alles das lässt, was der Sinn greifen kann, und
alles, was man sprechen kann, und alles, was Farbe machen kann, und alles, was
man hören kann, dann erst hat man alle Dinge gelassen. Wenn man so alle Dinge
lässt, so wird man von der Gottheit durchklärt und überklärt.
9. Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist. Als
Gott die Engel schuf, da war der erste Blick, den sie taten, dass sie des Vaters
Wesen sahen und wie der Sohn aus dem Herzen des Vaters herauswuchs recht wie ein
grünes Reis aus einem Baume. Diese freudenreiche Anschauung haben sie mehr als
sechstausend Jahre gehabt, und wie sie ist, das wissen sie heutigen Tages nicht
mehr als damals, wie sie eben geschaffen waren. Und das kommt von der Größe der
Erkenntnis: Denn je mehr man erkennt, desto weniger versteht man.
10. Und also soll ein Mensch sein Leben richten, der vollkommen werden will.
Darüber spricht Meister Eckhart: Die Werke, die der Mensch von innen wirkt, sind
lustvoll sowohl dem Menschen wie Gott und sind sanft und heißen lebendige
Werke. Sie sind Gott deswegen wert, weil er es allein ist, der die Werke in dem
Menschen wirkt, die von innen gewirkt werden. Diese Werke sind auch dem Menschen
süß und sanft, denn alle die Werke sind dem Menschen süß und lustvoll, wo Leib
und Seele miteinander einhellig werden. Und das geschieht in allen solchen
Werken. Diese Werke heißen auch lebendige Werke, denn das ist der Unterschied
zwischen einem toten Tier und einem lebenden Tier, dass das tote Tier nur von
einer äußeren Bewegung bewegt werden kann, das heißt: wenn man es zieht oder
trägt, und darum sind alle seine Werke tote Werke. Aber das lebende Tier bewegt
sich selbst, wohin es will, denn seine Bewegung geht von innen aus und alle
seine Werke sind lebende Werke. Recht in gleicher Weise heißen alle Werke der
Menschen, die ihren Ursprung von innen nehmen, wo Gott allein bewegt, und die
von dem Wesen kommen, unsere Werke und göttliche Werke und nützliche Werke. Aber
alle die Werke, die aus einer äußeren Ursache und nicht aus dem inneren Wesen
geschehen, die sind tot und sind nicht göttliche Werke und sind nicht unsere
Werke. Auch spricht Meister Eckhart, dass alle die Werke, die der Mensch von
innen wirkt, willkürliche Werke sind. Was nun willkürlich ist, das ist angenehm,
und darum sind alle Werke, die von innen geschehen, angenehm, und alle die
Werke, die infolge äußerer Bewegung geschehen, sind unwillkürlich und sind
knechtisch, denn wäre das Ding nicht, das von außen bewegt, so geschähe das Werk
nicht, und darum ist es unwillkürlich und knechtisch und unangenehm.
11. Meister Eckhart sprach, es könne kein Mensch in diesem Leben so weit kommen,
dass er nicht auch äußere Werke tun solle. Denn wenn der Mensch sich dem
beschaulichen Leben hingibt, so kann er vor großer Fülle sich nicht halten, er
muss ausgießen und muss im wirkenden Leben tätig sein. Gerade wie ein Mensch,
der gar nichts hat, der kann wohl mild sein, denn er gibt mit dem Willen;
jedoch, wenn ein Mensch großen Reichtum hat und nichts gibt, der kann nicht mild
heißen. Und ebenso kann kein Mensch eine Tugend haben, der sich nicht dieser
Tugend hingibt, wenn es Zeit und Raum erlaubt. Und darum sind alle die, die sich
dem beschaulichen Leben hingeben und nicht äußeren Werken und sich ganz und gar
von äußerem Werk abschließen, im Irrtum und nicht auf dem rechten Weg. Da sage
ich, der Mensch, der im beschaulichen Leben ist, kann wohl und soll sich von
allen äußeren Werken freimachen, solange er im Schauen ist; aber hernach soll er
sich äußeren Werken widmen, denn niemand kann sich allezeit und fortwährend dem
beschaulichen Leben hingeben, und das wirkende Leben wird ein Aufenthalt des
schauenden Lebens.
12. Meister Eckhart und auch andere Meister sagen, dass zwei Dinge in Gott sind:
Wesen und Wahrnehmen, das da relatio heißt. Nun sagen die Meister, dass des
Vaters Wesen den Sohn nicht in der Gottheit gebiert, denn nach seinem Wesen
sieht der Vater nichts anderes als in sein bloßes Wesen und schaut sich selber
darinnen mit all seiner Kraft, und da schaut er sich bloß ohne den Sohn und ohne
den heiligen Geist und sieht da nichts als Einheit seines nämlichen Wesens. Wenn
aber der Vater ein Anschauen und ein Wahrnehmen seiner selbst in einer anderen
Person haben will, so ist des Vaters Wesen in dem Wahrnehmen den Sohn gebärend,
und weil er sich selbst in dem Wahrnehmen so wohl gefällt und ihm das Anschauen
so lustvoll ist und weil er alle Lust ewig gehabt hat, darum muss er dieses
Wahrnehmen ewig gehabt haben. Darum also ist der Sohn ewig wie der Vater, und
aus dem Wohlgefallen und der Liebe, die Vater und Sohn miteinander haben, hat
der heilige Geist seinen Ursprung, und weil diese Liebe zwischen Vater und Sohn
ewig gewesen ist, darum ist der heilige Geist ebenso ewig wie der Vater und der
Sohn, und die drei Personen haben nur ein Wesen und sind allein an den Personen
unterschieden.
13. Meister Eckhart spricht, Gott ist nicht allein ein Vater aller Dinge, er ist
vielmehr auch eine Mutter aller Dinge. Denn er ist darum ein Vater, weil er eine
Ursache und ein Schöpfer aller Dinge ist. Er ist aber auch eine Mutter aller
Dinge, denn wenn die Kreatur von ihm ihr Wesen nimmt, so bleibt er bei der
Kreatur und erhält sie in ihrem Wesen. Denn bliebe Gott nicht bei und in der
Kreatur, wenn sie in ihr Wesen kommt, so müsste sie notwendig bald von ihrem
Wesen abfallen. Denn was aus Gott fällt, das fällt von seinem Wesen in eine
Nichtheit. Es ist mit anderen Ursachen nicht so, denn die gehen wohl von ihren
verursachten Dingen weg, wenn diese in ihr Wesen kommen. Wenn das Haus in sein
Wesen kommt, so geht der Zimmermann hinaus und zwar darum, weil der Zimmermann
nicht ganz und gar die Ursache des Hauses ist, sondern er nimmt die Materie von
der Natur; Gott dagegen gibt der Kreatur ganz und gar alles, was sie ist, sowohl
Form wie Materie, und darum muss er dabei bleiben, weil sonst die Kreatur bald
von ihrem Wesen abfallen würde.
14. Es spricht Johann Chrysostomus: Dass Gott in allen Kreaturen sei, das wissen
wir und sagen es, aber wie und in welcher Weise, das können wir nicht begreifen.
Doch Meister Eckhart spricht, dass uns dies ganz klar sein kann, wenn wir für
das Wort Gott das Wort Wesen setzen. Nun sehen und merken wir alle wohl, dass in
allen Dingen Wesen ist. Wenn also Gott das eigentliche Wesen ist, so muss darum
notwendigerweise Gott in allen Dingen sein.
15. Meister Eckhart sprach: Wie kommt der, der unwandelbar ist, und wie kommt
der, der an allen Orten ist? Zu wem kommt der, der in allen Herzen ist? Hierauf
antworte ich: Er kommt nicht so, dass er irgendetwas werde oder für sich selbst
irgendetwas erreiche, sondern er kommt gestaltend, er kommt, der da verborgen
war, und offenbart sich selbst, er kommt als ein Licht, das da in den Herzen der
Leute verborgen war und in ihrer Vernunft, sodass es jetzt geformt werde mit
der Vernunft und in der Begierde und in dem Allerinnersten des Bewusstseins. Nun
ist er dergestalt in der Innerlichkeit, dass da nichts ohne ihn ist, und so kann
da auch nichts mit ihm sein, sondern er ist alles, was da ist, allein. Daher
kommt er so, wenn er sich dergestalt in der Vernunft und in der Begierde
erzeugt, dass da nichts ohne ihn und nichts mit ihm ist, sondern die Vernunft
und die Begierde sind seiner ganz voll, und wer es derart merkt: nichts ohne
ihn, nichts mit ihm, sondern völlig eine Stätte Gottes, der weiß selber nicht,
dass er für Gott eine Stätte ist, wie David spricht: »Herr, das Licht deines
Antlitzes ist ein Zeichen über uns«, gerade so, als ob er sagt: Du sollst
schweigen und trauern und seufzen und von der Vernunft Mittel empfangen und sie
lauter in deine Begierde verwandeln, auf dass du seine göttliche Heimlichkeit
empfindest. Rede mit ihm, wie einer mit seinen Mitmenschen redet, und so, wie du,
wenn du mit Gott sprichst, »Ich« sagst, und wenn du von Gott sprichst, »Er«, so
sage zu Gott: »Du«. Du sollst alle Dinge vergessen und sollst allein Gott wissen
und sollst sprechen: »Du bist mein Gott, denn du bist allein inwendig, du bist
allein alle Dinge.« Keine Kreatur ist Gottes empfänglich, als die nach Gottes
Bild geschaffen ist, also der Engel und des Menschen Seele: die sind Gottes
empfänglich, dass er in ihnen und sie in ihm seien. Anderen Kreaturen ist Gott
wesenhaft, sie haben ihn nicht begriffen, sondern sie können nur ohne ihn nicht
Wesen haben. So steht es auch mit Gottes Gegenwart: Nicht sie sehen Gott,
sondern Gott sieht sie in ihrem Allerinnersten; und auch mit seiner Macht: Nicht
vermag er nichts ohne sie, sondern wir vermögen nichts ohne ihn. Darum aber,
weil Gott in der Seele wie in sich selber ist, heißt die Seele eine Stätte und
auch eine Stätte des Friedens, denn wo Gott ist wie in sich selbst, da ist
Himmelreich und Friede ohne Betrübnis, fröhlich und freudenvoll. Eine selige
Seele ruht in Gott ebenso und noch besser als in ihrem Eigentum.
Der Mensch, der völlig und rein aus sich selber herausgegangen
wäre, der fände ganz und gar Gott in Gott und Gott mit Gott. Der wirkt als
Gleicher: Denn alles, was er ist, das ist er Gott, und alles, was er Gott ist,
das ist er sich, denn Gott ist zugleich in Etwas und ist zugleich das Etwas, und
das Etwas ist zugleich in Gott und ist zugleich Gott, denn sie sie sind so ganz
eins, dass das eine ohne das andere nicht sein kann.
16. Meister Eckhart sprach, dass wir in dem Wesen der Seele Gott sehen und
erkennen können. Denn je näher ein Mensch in diesem Leben mit seiner Erkenntnis
dem Wesen der Seele kommt, umso näher ist er der Erkenntnis Gottes. Und das
geschieht allein dadurch, dass wir die Kreatur ablegen und aus uns selbst
herausgehen. Du sollst wissen, obschon ich die Kreatur in Gott liebe, so kann
ich doch Gott niemals in der Kreatur so rein lieben wie in mir. Du sollst aus
dir selbst gehen und dann wieder in dich selbst: Da liegt und wohnt die
Wahrheit, die niemand findet, der sie in äußeren Dingen sucht. Als Maria
Magdalena sich aller Kreatur entschlug und in ihr Herz hineinging, da fand sie
unsern Herrn. Gott ist rein und klar: Darum kann ich Gott nirgends finden als in
einem Reinen. Das Innerste meiner Seele aber ist klarer und reiner als jede
Kreatur; darum finde ich Gott am allersichersten in meinem Innersten.
17. Dass Gott in Ruhe ist, das bringt alle Dinge zum Laufen. Etwas ist so
lustvoll, das bringt alle Dinge zum Laufen, dass sie zurückkommen in das, von
dem sie gekommen sind und das doch unbeweglich in sich selber bleibt, und auf je
höherer Stufe ein Ding ist, umso lustvoller läuft es.
18. Gott kann ebenso wenig Gleichnisse leiden, als er leiden kann, dass er nicht
Gott ist. Gleichnis ist das, was nicht an Gott ist. In der Gottheit und in der
Ewigkeit ist Einssein, aber Gleichheit ist nicht Einssein. Bin ich eins, so bin
ich nicht gleich. Gleichheit ist nicht die Form des Wesens in der Einheit,
dieses gibt mir Einssein in der Einheit, nicht Gleichsein.
19. Was kann süßer sein, als einen Freund haben, mit dem du alles, was in deinem
Herzen ist, besprechen kannst wie mit dir selbst? Das ist wahr.
20. Was ist Gottes Sprechen? Der Vater sieht auf sich selbst in einer einfachen
Erkenntnis und sieht in die einfache Reinheit seines Wesens, da sieht er alle
Kreaturen gebildet. Da spricht er sich selbst, das Wort ist klares Verstehen,
und das ist der Sohn.
21. Wenn man Mensch sagt, so versteht man darunter eine Person; wenn man
Menschtum sagt, so meint man die Natur aller Menschen. Die Meister fragen, was
Natur ist. Sie ist ein Ding, das Wesen empfangen kann. Darum einigte Gott das
Menschtum mit sich, nicht den Menschen. Ich sage: Christus war der erste Mensch.
Wieso? Das Erste in der Meinung ist das Letzte am Werk, wie ein Dach das letzte
am Hause ist.
22. Das oberste Antlitz der Seele hat zwei Werke. Mit dem einen versteht sie
Gott und seine Güte und was aus ihm fließt. Daher liebt sie Gott heute und
versteht ihn morgen nicht. Darum liegt das Bild nicht in den Kräften infolge
ihrer unsteten Art. Das andere Werk ist in dem obersten Antlitz, das ist
verborgen. In der Verborgenheit liegt das Bild. Fünf Dinge hat das Bild an sich.
Erstens, es ist nach einem andern gebildet. Zweitens, es ist in sich selbst
geordnet. Drittens, es ist ausgeflossen. Viertens, es ist sich gleich von Natur,
nicht dass es göttlicher Natur wäre, aber es ist eine Substanz, die in sich
selbst besteht, es ist ein reines aus Gott geflossenes Licht, wo nicht mehr
Unterschiedenes ist, als dass es Gott versteht. Fünftens, es ist auf das Bild
geneigt, von dem es gekommen ist. Zwei Dinge zieren das Bild: das eine: Es ist
nach ihm gefärbt. Das zweite: Es hat etwas Ewigkeit in sich. Die Seele hat drei
Kräfte in sich. In diesen liegt das Bild nicht. Aber sie hat eine Kraft: das ist
der wirkende Verstand. Nun sagen Augustin und der neue Meister, dass darin
zugleich liege Gedächtnis und Verstand und Wille, und diese drei haben nichts
Unterschiedenes. Das ist das verborgene Bild, das löst sich aus dem göttlichen
Wesen, und das göttliche Wesen scheint unmittelbar in das Bild. Gottes Wille
ist, dass wir heilig sein sollen und die Werke tun, mit denen wir heilig werden.
Heiligkeit beruht auf der Vernünftigkeit und dem Willen. Die besten Meister
sagen: Heiligkeit liegt im Grunde im Höchsten der Seele, wo die Seele in ihrem
Grunde ist, wo sie allen Namen und ihren eigenen Kräften entwächst. Denn die
Kräfte sind auch ein nach außen Gefallenes. Wie man Gott keinen Namen geben
kann, so kann man auch der Seele in ihrer Natur keinen Namen geben. Und wo diese
zwei eins werden, da ist Heiligkeit.
Wesen steht auf so hoher Stufe, das es allen Dingen Wesen gibt.
Wäre kein Wesen, so wäre ein Engel dasselbe was ein Stein.
23. Ein hoher Lesemeister erzählte in einer Predigt in einer hohen Versammlung
diese Geschichte: Es war einmal ein Mann, von dem liest man in den Schriften der
Heiligen, der begehrte wohl acht Jahre, Gott möge ihm einen Menschen zeigen, der
ihm den Weg zur Wahrheit weisen könnte. Und als er in einem starken Begehren
war, da kam eine Stimme von Gott und sprach zu ihm: »Geh vor die Kirche, da
findest du einen Menschen, der dir den Weg zur Wahrheit weisen soll.« Und er
ging und fand einen armen Mann, dem waren seine Füße aufgerissen und voll Kot
und alle seine Kleider waren kaum drei Pfennig wert. Er grüßte ihn und sprach:
»Gott gebe dir einen guten Morgen«, und jener erwiderte: »Ich hatte nie einen
bösen Morgen!« Er sprach: »Gott gebe dir Glück!, wie antwortest du mir so?« Und
er erwiderte: »Ich hatte nie Unglück.« Er sprach wieder: »Bei deiner Seligkeit!,
wie antwortest du mir so?« Er erwiderte: »Ich war nie unselig.« Da sprach er:
»Gebe dir Gott Heil! Kläre mich auf, denn ich kann es nicht verstehen.« Er
erwiderte: »Das will ich tun. Du sprachst zu mir, Gott möge mir einen guten
Morgen geben, da sagte ich: Ich hatte nie einen bösen Morgen. Hungert mich, so
lobe ich Gott; bin ich elend und in Schande, so lobe ich Gott; und daher hatte
ich nie einen bösen Morgen. Als du sprachst, Gott möge mir Glück geben, sagte
ich, ich hatte nie Unglück. Denn was mir Gott gab oder über mich verhängte, es
sei Freude oder Leid, sauer oder süß, das nahm ich alles von Gott für das Beste;
deshalb hatte ich nie Unglück. Du sprachst, bei meiner Seligkeit, da sagte ich:
Ich war nie unselig, denn ich habe meinen Willen so gänzlich in Gottes Willen
gegeben: Was Gott will, das will auch ich, darum war ich nie unselig, denn ich
wollte allein Gottes Willen.« »Ach, lieber Mensch, wenn dich nun Gott in die
Hölle werfen wollte, was wolltest du dazu sagen?« Da sprach er: »Mich in die
Hölle werfen? Das wollt’ ich sehen! Und auch dann, würfe er mich in die Hölle,
so habe ich zwei Arme, mit denen umfasste ich ihn. Der eine ist wahre Demut, den
legte ich um ihn und umfasste ihn mit dem Arm der Liebe.« Und dann sprach er:
»Ich will lieber in der Hölle sein und Gott haben als im Himmelreich und Gott
nicht haben.«
24. Meister Eckharten begegnete ein schöner nackender Bube. Da fragte er ihn,
woher er käme. Er sprach: Ich komme von Gott. – Wo ließest du ihn? – In
tugendhaften Herzen. – Wohin willst du? – Zu Gott. – Wo findest du ihn? – Wo ich
alle Kreaturen verließ. – Wer bist du? – Ein König. – Wo ist dein Königreich? –
In meinem Herzen. – Hüte dich, dass es niemand mit dir teile! – Das tu ich. – Da
führte er ihn in seine Zelle und sprach: Nimm, welchen Rock du willst! – Dann
wäre ich kein König, – und verschwand. Es war Gott selbst gewesen, der mit ihm
einen Spaß gemacht hatte.
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