Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
Predigten
Vom Schweigen
Vom Unwissen
Von der Dunkelheit
Von stetiger Freude
Von der Stadt der Seele
Vom namenlosen Gott
Vom innersten Grunde
Von der Vollendung der Zeit
Ein Zweites vom namenlosen Gott
Von guten Gaben
Von unsagbaren Dingen
Vom Leiden Gottes
Von der Einheit der Dinge
Wie Jesus an dem Stricke zog
Von der Erkenntnis Gottes
Von der Armut
Von Gott und der Welt
Von der Erneuerung des Geistes
Von der Natur
Von Gott und Mensch
Vom Tod
Was ist Gott?
Vom persönlichen Wesen
Traktate
Von den Stufen der Seele
Gespräch zwischen Schwester
Kathrei und dem Beichtvater
Von der Abgeschiedenheit
Von der Überfreude
Die Seele auf der Suche nach Gott
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Vom Zorn der Seele
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Von der Vollendung der Zeit
»In der Zeit war der Engel Gabriel gesandt von Gott.« In welcher Zeit? Im
sechsten Monat, als Johannes im Mutterleib zappelte. Wenn mich nun einer fragte:
Warum beten wir oder warum fasten wir oder wirken wir all unser Werk?, so
antworte ich: Darum, dass Gott in unserer Seele geboren werde. Warum ist alle
Schrift geschrieben, und warum hat Gott die Engelsnatur und alle Welt
geschaffen? Darum allein, dass Gott in der Seele geboren werde. Alles Kornes
Natur meint Weizen, alles Schatzes Natur Gold, alle Gebärung meint Mensch. Wie
ein Meister spricht, gibt es kein Tier, das nicht etwas mit dem Menschen in der
Zeit gemein hat.
Sankt Paulus spricht: »In der Vollendung der Zeit sandte Gott
seinen Sohn.« Sankt Augustin ward gefragt, was das sei, die Vollendung der Zeit?
Vollendung der Zeit ist, wenn der Tag nicht mehr ist: Dann ist der Tag
vollendet. Es ist eine sichere Wahrheit, wo diese Geburt geschehen soll, da muss
alle Zeit hinab sein, denn es gibt nichts, was diese Geburt so sehr hindert als
Zeit und Kreatur. Es ist eine notwendige Wahrheit, dass die Zeit an Gott und die
Seele nicht rühren kann. Könnte Zeit an die Seele rühren, so wäre sie nicht
Seele. Könnte Gott von der Zeit berührt werden, so wäre er nicht Gott.
Eine andere Vollendung der Zeit! Wer die Kunst und die Macht hätte,
dass er die Zeit und alles, was in sechstausend Jahren je geschah oder noch
geschehen wird, bis an das Ende der Welt – wenn einer das heranziehen könnte in
ein gegenwärtiges Nu, das wäre Vollendung der Zeit. Das ist das Nu der Ewigkeit,
wo die Seele alle Dinge in Gott erkennt, so neu und so frisch und in derselben
Lust, wie ich sie jetzt gegenwärtig habe. Die mindeste Kraft in meiner Seele ist
weiter als der weite Himmel. Ich sehe ab von der Vernunft, in der ist Weite über
Weite, in der bin ich so nahe dem Ort, der tausend Meilen weg ist, als dem Ort,
worin ich jetzt stehe. Die Meister sagen, die Menge der Engel sei ohne Zahl,
ihre Zahl könne nicht begriffen werden. Wer aber ohne Zahl und ohne Menge
unterscheiden könnte, dem wäre hundert wie eins. Wären gleich hundert Personen
in der Gottheit, so erkennte er doch, dass nur ein Gott ist. Dass Gott in uns
geboren werde, das walte Gott. Amen.
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