Meister Eckharts
mystische Schriften
übertragen von Gustav Landauer
Predigten
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Vom Unwissen
Von der Dunkelheit
Von stetiger Freude
Von der Stadt der Seele
Vom namenlosen Gott
Vom innersten Grunde
Von der Vollendung der Zeit
Ein Zweites vom namenlosen Gott
Von guten Gaben
Von unsagbaren Dingen
Vom Leiden Gottes
Von der Einheit der Dinge
Wie Jesus an dem Stricke zog
Von der Erkenntnis Gottes
Von der Armut
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Von der Erneuerung des Geistes
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Was ist Gott?
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Von der Erkenntnis Gottes
Unser lieber Herr spricht, dass das Reich Gottes nahe bei uns ist. Ja, das Reich
Gottes ist in uns, und Sankt Paulus spricht, dass unser Heil näher bei uns ist,
als wir glauben. Nun sollt ihr wissen, wie das Reich Gottes uns nahe ist.
Hiervon müssen wir den Sinn recht achtsam merken. Denn wäre ich ein König und
wüsste es selbst nicht, so wäre ich kein König. Aber hätte ich die feste
Überzeugung, dass ich ein König wäre, und meinten und glaubten das alle Menschen
mit mir, so wäre ich ein König und aller Reichtum des Königs wäre mein. So ist
auch unsere Seligkeit daran gelegen, dass man das höchste Gut, das Gott selbst
ist, erkennt und weiß. Ich habe eine Kraft in meiner Seele, die Gottes allzumal
empfänglich ist. Ich bin dessen so gewiss, wie ich lebe, dass mir kein Ding so
nahe ist wie Gott. Gott ist mir näher, als ich mir selber bin, mein Wesen hängt
daran, dass Gott mir nahe und gegenwärtig ist. Das ist er ebenso einem Stein und
einem Holze, aber sie wissen es nicht. Wüsste das Holz Gott und erkennte es, wie
nahe er ihm ist, wie es der höchste Engel erkennt, das Holz wäre so selig wie
der höchste Engel. Und darum ist der Mensch seliger als ein Holz, weil er Gott
erkennt und weiß, wie nahe ihm Gott ist. Nicht davon ist er selig, dass Gott in
ihm ist und ihm so nahe ist und dass er Gott hat, sondern davon, dass er Gott
erkennt, wie nahe er ihm ist, und dass er Gott wissend und liebend ist; und der
soll erkennen, dass Gottes Reich nahe ist.
Wenn ich an Gottes Reich denke, dann befällt mich tiefes Schweigen
seiner Größe wegen; denn Gottes Reich ist Gott selbst mit all seinem Reichtum.
Gottes Reich ist kein kleines Ding: Wer an alle Welten dächte, die Gott machen
könnte, das ist nicht Gottes Reich. Der Seele, in der Gottes Reich erglänzt und
die Gottes Reich erkennt, braucht man nicht predigen oder lehren, sie wird von
ihm belehrt und des ewigen Lebens getröstet. Wer weiß und erkennt, wie nahe ihm
Gottes Reich ist, der kann mit Jakob sprechen: »Gott ist an diesem Ort und ich
wusste es nicht.«
Gott ist in allen Kreaturen gleich nahe. Der Weise spricht: »Gott
hat seine Netze und Stricke auf alle Kreaturen ausgeworfen, sodass man ihn in
einer jeden finden und erkennen kann, wenn man es wahrnehmen will.« Ein Meister
spricht: Der erkennt Gott recht, der ihn in gleicher Weise in allen Dingen
erkennt; und wenn einer Gott in Furcht dient, ist es gut; wenn er ihm aus Liebe
dient, ist es besser; aber wer ihn in Fürchten lieben kann, das ist das
allerbeste. Dass ein Mensch ein Leben der Ruhe oder Rast in Gott hat, das ist
gut; dass der Mensch ein Leben der Pein mit Geduld trägt, ist besser; aber dass
man in dem peinvollen Leben seine Rast habe, das ist das allerbeste. Ein Mensch
gehe auf dem Felde [und spreche sein Gebet] und erkenne Gott, oder er sei in der
Kirche und erkenne Gott: Wenn er Gott darum, weil er an einem Ruheplatz ist,
eher erkennt, so kommt das von seiner Schwäche, nicht von Gott, denn Gott ist in
allen Dingen und an allen Orten gleich und ist bereit, soweit es an ihm ist,
sich überall in gleicher Weise zu geben, und der erkennte Gott richtig, der ihn
überall in gleicher Weise erkennte.
Wie der Himmel an allen Orten gleich fern von der Erde ist, so soll
auch die Seele gleich fern sein von allen irdischen Dingen und dem einen nicht
näher sein als dem andern, und sie soll sich gleichmütig halten in Liebe, in
Leid, im Haben, im Entbehren, in alledem soll sie zumal gestorben, gelassen und
darüber erhoben sein. Der Himmel ist rein und klar ohne alle Flecke, den Himmel
berührt weder Zeit noch Raum. Alle körperlichen Dinge haben keinen Raum darin.
Er ist auch nicht in der Zeit, sein Umlauf ist unglaublich schnell, sein Lauf
ist ohne Zeit, aber von seinem Lauf kommt die Zeit. Nichts hindert die Seele so
sehr an der Erkenntnis Gottes als Zeit und Raum. Zeit und Raum sind Stücke und
Gott ist eins. Soll darum die Seele Gott erkennen, so muss sie ihn über der Zeit
und über dem Raum erkennen; denn Gott ist weder dies noch das wie diese Dinge
der Mannigfaltigkeit; denn Gott ist eins.
Soll die Seele Gott erkennen, so darf sie mit dem Nichts keine
Gemeinschaft haben. Wer Gott sieht, der erkennt, dass alle Kreaturen nichts
sind. Wenn man eine Kreatur mit der andern vergleicht, so scheint sie schön und
ist etwas; aber wenn man sie mit Gott vergleichen will, so ist sie nichts.
Ich sage mehr: Soll die Seele Gott erkennen, so muss sie auch ihrer
selbst vergessen und muss sich selbst verlieren; denn solange sie sich selbst
sieht und erkennt, sieht und erkennt sie Gott nicht. Wenn sie sich um Gottes
willen verliert und alle Dinge verlässt, so findet sie sich in Gott wieder, weil
sie Gott erkennt, und dann erkennt sie sich selbst und alle Dinge [von denen sie
sich geschieden hat] in Gott in Vollkommenheit.
Will ich das höchste Gut und die ewige Güte erkennen, wahrlich, so
muss ich sie erkennen, wie sie gut an sich selbst ist, nicht wie die Güte
geteilt ist. Will ich das wahre Wesen erkennen, so muss ich es erkennen – wie
das Sein an sich selbst ist, das heißt in Gott, nicht wie es in Kreaturen
geteilt ist.
In Gott allein ist das ganze göttliche Wesen. In einem Menschen ist
nicht ganzes Menschtum, denn ein Mensch ist nicht alle Menschen. Aber in Gott
erkennt die Seele ganzes Menschtum und alle Dinge im Höchsten, denn sie erkennt
sie in ihrem Wesen. Ein Mensch, der in einem schön gemalten Hause wohnt, weiß
viel mehr davon als ein anderer, der nie hineinkam und viel davon sagen wollte.
Daher ist es mir so gewiss, als ich lebe und Gott lebt: Wenn die Seele Gott
erkennen will, muss sie ihn über Zeit und Raum erkennen. Und eine solche Seele
erkennt Gott und weiß, wie nahe Gottes Reich ist, das heißt Gott mit all seinem
Reichtum. Die Meister haben viel Fragens in der Schule, wie das möglich sei,
dass die Seele Gott erkennen könne? Es liegt nicht an Gottes Strenge, dass er
viel von den Menschen heischt; es liegt an seiner großen Milde, dass er will,
dass die Seele sich weiter mache, auf dass sie viel empfangen und er ihr viel
geben könne.
Niemand soll denken, es sei schwer, hierzu zu kommen, wie wohl es
schwer klingt und auch wirklich im Anfang schwer ist, im Abscheiden und Sterben
aller Dinge. Aber wenn man hineinkommt, so ist kein Leben leichter und
fröhlicher und lieblicher; denn Gott gibt sich große Mühe, allezeit bei dem
Menschen zu sein, und lehrt ihn, damit er ihn zu sich bringt, wenn er anders ihm
folgen will. Es begehrte nie ein Mensch so sehr nach einer Sache, als Gott
begehrt, den Menschen dazu zu bringen, ihn zu erkennen. Gott ist allzeit bereit,
aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm ferne; Gott
ist drinnen, aber wir sind draußen; Gott ist zu Hause, wir sind in der Fremde.
Der Prophet spricht: »Gott führt die Gerechten durch einen engen Weg in die
breite Straße, dass sie in die Weite und in die Breite kommen, das heißt: in
wahre Freiheit des Geistes, der ein Geist mit Gott geworden ist.« Dass wir ihm
alle folgen, dass er uns in sich bringe, das walte Gott. Amen.
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